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Die Schwester 32 - "Nach Hause"
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Ein wenig fassungslos und entsetzt stand ich mit einem Bündel Kleidung unter dem Arm in der Box. Zwei Augenpaare sahen mich vorwurfsvoll an. Selbst bei Theresa konnte man in ihren Augen Wut und Enttäuschung, Entsetzen und Angst erkennen. Auch die Augen eines Blinden können sprechen!

Beide Mädchen zitterten am ganzen Körper an ihren Handgelenken konnte man deutliche rote Striemen erkennen, sie hatten sich versucht aus den Fesseln zu befreien und sich dabei die Arme ein wenig wundgescheuert. Doch das Zittern kam nicht etwa daher, das es hier im Stall kalt gewesen wäre, das wurde mir schnell klar, es war die Entkräftung. Stundenlang hatten die beiden mit nach oben gebundenen Armen hier stehen müssen. Mir war unwohl in meiner Haut, nein mehr als das, ich fühlte mich schuldig. Ich trat an Theresa heran und schnitt ihr die Fesseln auf. Zum Glück hatte ich ein Taschenmesser dabei, denn mit ihren Befreiungsversuchen hatte sie die Knoten so stramm gezogen, daß ich ohne ein Messer die Fesseln überhaupt nicht aufbekommen hätte. Der Geruch von abgestandenem Schweiß und Sperma kroch mir in die Nase. Kein Wunder, die beiden hatten sich nach unserer Orgie nicht reinigen können. Aber da war auch noch etwas anderes, Urin, es roch eindeutig nach Urin, und mir wurde schlagartig klar warum. Kaum hatte ichTheresa losgebunden, wankte sie unkoordiniert und drohte der Länge nach hinzuschlagen. Ihre Arme, blutleer wie ein Stück abgehangenes Fleisch, hatte sie nicht mehr unter Kontrolle und der Versuch sich an der Boxenwand festzuhalten glich dem verzweifelten Bewegungstraining, das ich schon einmal bei Rosa gesehn hatte, nachdem sie nach ihrem Unfall nach Wochen den Gips wieder abgenommen bekam. Ich fing Theresa auf und half ihr vorsichtig sich ins Stroh zu setzen. Die ganz Zeit über stammelte ich immer wieder nur ein "Tschuldigung, tut mir Leid!", mehr brachte auch ich nicht zu stande. Kraftlos ließ sich Theresa sinken und ich hoffte innigst, daß sie bald wieder fit sein würde, denn in panischer Angst dachte ich daran, waß nun passieren würde, wenn Frau Ratelli auf den Hof zurückkam und uns vielleicht doch noch hier finden würde.

"Bind mich endlich los!" jammerte meine Schwester vorwurfsvoll und riß mich ein wenig aus meinen Gedanken. Ich zückte abermals mein Messer, doch Kai-jin schüttelte energisch den Kopf, "erst die Gerte, ich kann nicht mehr, bitte nimm sie raus, es tut so weh!"

Ich kniete mich vor Kai-jin und bemerkte sofort, auch sie hatte ihren Urin einfach laufen lassen. Was hätte sie auch sonst tun sollen. Doch da war auch noch etwas anderes, es roch nach Blut. Kai-jin hatte sich bei ihrem Befreiungsversuch verletzt. Die Gerte steckte zu tief in ihr und feucht war sie längst nicht mehr. Mir wurde heiß inder Birne. Was hatte ich da nur wieder angerichtet. Vorsichtig band ich die Riemen um ihr Bein los und zog ganz sanft die Gerte aus ihr heraus. Ich glaubte zumindest vorsichtig zu sein, doch Kai-jin schrie auf vor Schmerz und ein Schwall Urin floß mir über die Hände. Sie hatte ihren Körper kaum noch unter Kontrolle. Ich ließ mir nichts anmerken, denn auch so, war mir die Situation schon peinlich genug.

Kai-jins Schamlippen waren deutlich geschwollen und neben den letzten Tropfen Pisse die daran glänzten waren deutlich die feinen Spuren von Blut zu erkennen. Ich fragte mich wie ich das nur wieder gutmachen konnte.

Kai-jin jammerte immer wieder, das ihr alles weh täte, und es so brennen würde. Ich band sie los und sie fiel förmlich in meine Arme.

"Was machen wir jetzt?" ich war etwas unsicher, ich konnte die beiden doch hier nicht einfach so liegen lassen, nur weil ich Angst hatte, entdeckt zu werden. Aber meine Angst war gigantisch. Ich beschimpfte mich in Gedanken selbst als einen Feigling, doch viel half das nicht.

"Wir müssen irgendwie ins Haus, bevor meine Mutter kommt, am besten ins Bad, da können wir uns im warmen Wasser etwas erholen, und wenn meine Mutter fragt, behaupten wir, daß wir uns frisch machen wollten." Theresas Vorschlag erschien mir einleuchtend. Notdürftig zogen sich die beiden ihre Klamotten an, und ich bemühte mich ihnen wenigstens ein klein wenig dabei zuhelfen.

Ich spähte aus dem Stall über den Hof und in die Landschaft. Frau Ratelli war nirgends zu sehen. So führte ich zuerst Theresa in das Bad der Ratellis und holte dann Kai-jin, die ich in unser Bad im ersten Stock brachte.

Kai-jin jammerte laut auf, als warmes Wasser ihre Scham umspülte, biß die Zähne aufeinander und preßte zischend die Luft zwischen Ihren Zähnen hindurch.

"Tut mir wirklich leid Schwesterchen", versuchte ich erneut mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Kai-jin rang sich ein Lächeln ab, daß ein wenig verzerrt aussah, denn sie schien wirklich Schmerzen zu haben.

"Ach, wir sind ja alle selber Schuld, aber das nächste Mal bindest du uns vorher los, bevor du einfach verschwindest!"

Hatte ich das gerade richtig gehört? 'Das nächste Mal'? Ich verstand die Welt nicht mehr so ganz und schüttelte nur leicht den Kopf. Morgen früh würden wir abreisen. Ein nächstes Mal würde es nicht geben. Und ob ich mich auf so ein Spielchen überhaupt noch einmal einlassen würde, dessen war ich mir in diesem Moment wirklich nicht sicher.

"Du solltest lieber mal nach Theresa sehen!" schlug Kai-jin vor, bevor Frau Ratelli kommt.

Frau Ratelli, oh shit, das Fahrrad. Ich mußte das Fahrrad herbeischaffen, bevor Sie zurückkam. Ich ließ die verdutzte Kai-jin in der Wanne sitzen und rannte aus dem Haus. Frau Ratelli war nirgends zu sehen, trotzdem rannte ich wie ein gehetzter Hund über die Hügel zum Fahrrad zurück, holte es aus dem Gebüsch und radelte so schnell ich konnte zum Hof zurück. Ich keuchte mir fast die Lunge aus dem Hals und mir war etwas schwindelig als ich den Hof erreichte.

Ich öffnete den Fahrradschuppen und sofort fiel mir das Rad von Frau Ratelli auf, das an der Wand lehnte. Ich stürzte regelrecht ins Haus und hätte fast Frau Ratelli umgerannt, die aus der Küche kam.

"Sind sie wieder da?" fragte ich so scheinheilig, daß ich merkte wie ich wegen meiner Lüge eine rote Birne bekam.

"Ja, die waren schon wieder hier, als ich zurückgekommen bin, schüttelte Frau Ratelli mißbilligend den Kopf, "wo die bloß gesteckt haben?"

"Haben sie ihnen denn nichts erzählt!" fragte ich, immer noch sehr um meine scheinheilige Fassade bemüht.

"Nein, die sind beide im Bad, die machen sich wohl ein bißchen frisch!"

"Beide zusammen?" und mein gespieltes Erstaunen war so überzeugend, das Frau Ratelli sich umdrehte und mich böse ansah.

"Nein, Theresa ist hier unten in unserem Bad und Deine Schwester, die habe ich eben oben gehört. Was hast Du denn gedacht!"

Für Frau Ratelli war es schon undenkbar, das die beiden Mädchen sich gleichzeitig ein Bad teilten, wenn die wüßte... aber ich war ganz froh, das die Angelegenheit doch noch so glimpflich abgegangen war und schwieg deshalb lieber.

Etwa eine halbe Stunde später, kamen dann auch endlich die beiden Mädchen. Kai-jin tug eine langärmelige Bluse, und als ich einen kurzen Moment ihre Handgelenke sah, wußte ich nur zu gut, warum.

"Wo wart ihr denn?" und wieder war ich erstaunt, was für ein vortrefflicher Lügner ich war.

"Spazieren!" kam die etwas schnodrige Antwort von meiner Schwester und als sie sich von Frau Ratelli unbeobachtet fühlte, streckte sie mir die Zunge heraus. Ich begriff das das diesesmal nicht unbedingt freundlich gemeint war. Kai-jins staksiger Gang verriet, das sie immer noch Schmerzen hatte, und ich hoffte, nicht irgendwelchen Schaden angerichtet zu haben. Einen Besuch beim Arzt würde uns in echte Erklärungsnöte bringen.

Theresa hatte ein T-Shirt an und ich versuchte als erstes einen Blick auf ihre Handgelenke zu erhaschen, doch auf ihrer etwas dunkleren Haut waren die Striemen an den Handgelenken nicht so deutlich zu sehen. Hoffentlich blieben sie auch ihrer Mutter verborgen.

Frau Ratelli ging aber schon wieder ganz in ihrer Hausarbeit auf, denn inzwischen war es so spät geworden, daß wir Mittag und Abendbrot gut zusammenlegen konnten. Also wurde noch ein bißchen mehr aufgetischt, und hungrig wie wir alle waren fielen wir über die Tafel her, als hätten wir die letzten Wochen nur Wasser und Brot bekommen.

Frau Ratelli lästerte ein wenig über unseren Hunger und unsere Gier, sah es uns aber zugleich etwas wehmütig nach, denn es war, vom Frühstück morgen mal abgesehen, unsere letzte Mahlzeit hier bei den Ratellis. Natürlich bot sie uns auch an, wenn es denn so gut schmecken würde uns für den morgigen Tag ein bißchen was einzupacken. Was bei Frau Ratelli 'ein bißchen' war konnte ich mir zwar gut vorstellen, aber ausschlagen konnte ich das Angebot dennoch nicht.

Kai-jin und Theresa waren das ganze Essen über sehr schweigsam. Wenn ich meine Schwester ansah, dann rang sie sich zwar ein Lächeln ab, aber viele Worte waren ihr nicht zu entlocken. Nach dem vorgezogenen Abendbrot machten wir uns dran die Koffer zu packen. Typisch für einen Jungen, hatte ich meine Klamotten schnell gepackt. Tasche auf, alles rein, Tasche zu. Nur die Klamotten für den morgigen Tag ließ ich draußen und ging zu Kai-jin ins Zimmer.

"Naa...?" betrat ich fragend den Raum, "alles OK?"

"Hmm.." mehr bekam ich als Antwort nicht.

"Kai-jin, es tut mir leid, was heute passiert ist." und ich erklärte ihr, was am Nachmittag passiert war, wie ich immer wieder eine Gelegenheit gesucht hatte, sie und Theresa zu befreien, wie ich versucht hatte von hier wegzukommen und auch Frau Ratelli davon zu überzeugen nach ihr und Theresa zu suchen.

Kai-jin lächelte! Nicht das sie mich auslachte, nein, sie lächelte in einer so liebevollen Art, die regelrecht etwas mütterliches hatte, das mir irgendwie ganz warm ums Herz wurde.

"Ich bin dir garnicht mehr böse, eher auf mich selbst. Das ich mich auf dieses Spielchen eingelassen habe. Aber der Nachmittag war auch sehr interessant."

"Interessant?" ich war etwas konsterniert. "Wieso interessant?"

"Ich habe mich die ganze Zeit über mit Theresa unterhalten, irgendwie mußten wir ja die Zeit totschlagen."

"Und was war daran so interessant?" ich begriff noch immer nicht so ganz, was daran so interessant sein sollte oder konnte.

"Wir haben über uns gesprochen, über uns beide, wie das passiert ist, warum das passiert ist, und was wir machen können."

"Was sollen wir schon machen?" irgendwie verwirrten mich Kai-jins Antworten eher, als das die mir Klarheit verschafften.

"Du weißt über Theresa Bescheid, über ihren Vater, über ihre Kindheit. Das hat sie uns doch erzählt..."

"Ja aber was hat das mit uns zu tun? Das verstehe ich nicht so ganz?" langsam hatte ich nicht das Gefühl das ich auch nur annähernd begriff, worauf meine Schwester hinauswollte.

"Naja, Theresa meinte, uns erginge es ja auch nicht viel anders als Ihr!"

Mir fiel fast der Unterkiefer auf den Teppich.

"Waaas? Wieso? Das kann man doch garnicht vergleichen!"

Kai-jin hielt mit dem Kofferpacken inne und setzte sich mir gegenüber auf den Fußboden.

"Doch vielleicht kann man daß doch. Sicherlich Papa säuft nicht, und er schlägt nicht. Er hat sich auch an mir nie vergriffen, aber wann war er denn mal für uns da? Wann ist unser Vater denn wirklich mal ein Vater für uns gewesen?"

Mich schockierte dieses harte Urteil ein wenig, schließlich sprach Kai-jin da von unserem Vater. Eltern, das war irgendwie immer etwas heiliges gewesen. Meine Mutter war immer die beste Mama der Welt gewesen, mein Vater immer der beste Papa der Welt, aber ich begriff allmählich, daß das vielleicht nicht stimmte. Hatte ich deshalb so heftig reagiert, als ich meinen Vater mit Christa hatte flirten sehen?

Ich verstand nicht so recht, warum es Kai-jin so leicht fiel, zu akzeptieren, daß auch unsere Eltern einige Macken und Fehler hatten.

"Ja aber Papa und Mama haben es doch bestimmt immer gut gemeint mit uns", versuchte ich sie ein wenig zu verteidigen.

"Das meine ich doch garnicht!" und ich merkte das es auch Kai-jin nicht ganz leicht viel, mit mir darüber zu reden. "Aber könnte es nicht sein, daß das was zwischen uns passiert nur deshalb passiert, weil Papa und Mama so sind,

wie sie sind? Theresa meint jedenfalls das Kinder garnicht steuern können, was sie werden oder wie sie sich entwickeln, sondern das das ganze drumherum viel mehr Einfluß darauf hat, als man selbst!"

Mir war das ein bißchen zu hoch und so schob ich eigentlich mehr aus Verlegenheit, um dem Thema auszuweichen die Frage hinterher: "Glaubst Du das etwa?"

Doch Kai-jin zuckte nur die Schultern. "Theresa ist viel älter als wir, ich glaube als Erwachsener sieht man manche Dinge anders. Und vielleicht hat Theresa ja einfach recht."

"Und was heißt das jetzt?" ich begriff immer noch nicht so ganz, und es sollte auch noch ein paar Jahre dauern, biß ich tatsächlich verstand, was Theresa Kai-jin versucht hatte klar zu machen.

"Ach ist doch egal" und mit diesen Worten sprang Kai-jin auch schmiß mich auf das Bett zurück und viel mir in die Arme, mir einen zärtlichen Kuß auf die Lippen hauchend, "ich liebe Dich!"

Nicht das das meine Verwirrung beseitigt hätte, aber ich war froh, daß Kai-jin mir nicht mehr böse war, wenn sie es denn überhaupt gewesen war, nahm sie fest in den Arm und erwiederte ihren Kuß.

"Wir sollten lieber unsere Koffer packen, bevor uns hier noch so jemand sieht!" Unterbrach ich unsere Knutscherei.

"Feigling!" und mit einem demonstrativ innigen Kuß unterstrich Kai-jin ihre bissige Bemerkung noch, löste sich aber schließlich doch, und packte weiter ihren Koffer.

Ich war verwirrt. Überhaupt war ich in letzter Zeit oft verwirrt und ich erinnerte mich an ein paar Worte meiner Mutter, die einmal in einem Streit mit mir gesagt hatte, 'Junge wie soll das erst werden, wenn du in die Pubertät kommst?' War das jetzt 'Pubertät'. Manchmal hasste ich die Welt der Erwachsenen, obwohl ich mich doch selbst schon wie einer fühlte. Alles war so verwirrend, und dauernd grübelte man über irgendetwas nach.

"Ich gehe nach unten!" und mit diesen Worten stand ich auf und ging auf die Veranda, wo Theresa auf ihrem Stuhl bei der Tür saß und in die Landschaft starrte, die sie doch nicht sehen konnte.

"Hallo Geo!", begrüßte sie mich, sie hatte meinen Schritt natürlich längst erkannt.

"Hallo" erwiederte ich nur holte mir einen Stuhl und setzte mich neben sie und starrte ebenfalls in den Sonnenuntergang.

Es verstrichen ein paar Minuten in denen wir uns das warme rote Sonnenlicht ins Gesicht scheinen ließen, und ich mich fragte, ob Theresa es denn wenigstens spüten konnte. Selbst bei geschlossenen Augen schien alles rot zu sein, und ich konnte mir nicht vorstellen immer nur Schwarz zu sehen.

"Schade das ihr morgen schon wieder weg müßt!" Theresas Worte rissen mich ein wenig aus dem Gedankenwirrwarr, "es war schön mit euch beiden, werdet ihr wiederkommen?"

"Ich weiß nicht, aber komm Du uns doch einfach besuchen?" Und mir gefiel die Vorstellung druchaus, Theresa für eine Weile bei uns in Deutschland zu haben.

Theresa lächelte, und ihr schien der Gedanke ebenfalls zu gefallen. "Und was werdet ihr machen wenn ihr zu Hause seid?" Und als von mir nicht sofort eine Antwort kam, fügte sie noch hinzu, "wegen Eurer Eltern!"

Was sollten wir schon tun. Ich hatte nur Angst vor Streit und Streß, mein Vater war sowieso fast nie zu Hause gewesen, würde sich also so viel ändern? Andererseits hatte ich auch Angst vor der neuen Situation. In den Wochen seid Vaters Abreise hatten wir fast jeden Abend mit unserer Mutter telefoniert, unsere Eltern würden sich trennen, das stand fest. Vater würde nach New York gehen, und was mich ein wenig verwirrte; er würde Rosa mitnehmen. In fast jedem Telefonat hatte Mama erzählt, wie sehr sie sich wieder mit Rosa gestritten hatte. Ich verstand das meiste davon nicht. Warum sich meine Mutter plötzlich nicht mehr mit Rosa verstand war mir absolut schleierhaft. Ich verstand auch nicht, das Rosa plötzlich alles so egal war. Nicht, daß wir uns immer gut mit ihr verstanden hätten. Rosa war immer eine Einzelgängerin gewesen. Aber ich hätte nicht gedacht, daß sie sich bei uns unwohl fühlen würde. So wie meine Mutter das erzählte, war das aber scheinbar der Fall. Sie hatte meiner Mutter viele Vorwürfe gemacht, sie sei immer das ungeliebte Kind gewesen. Und mit Christa verstand sie sich schienbar super. In den letzten Wochen der Ferien sei sie fast jeden Tag bei Vater und Christa gewesen. Das hatte natürlich sehr viel Streit gegeben, und irgendwie war ich ein bißchen froh, daß wir hier weit genug weg in Italien saßen. Aber wir mußten der Wahrheit auch ins Auge blicken. Vater würde übermorgen abreisen, zusammen mit Rosa, und wenn wir wieder zu Hause wären, dann würde nichts mehr so sein wie vorher. In den letzten Wochen hatte sich ohne unser Zutun unser ganzes Leben umgekrempelt, und ein Großteil des Geschehens war sogar gänzlich an uns vorbeigegangen, während wir hier in der Toscana unsere Ferien genossen hatten.

Seit dem mein Vater abgereist war hatten wir mit ihm nicht mehr gesprochen, und ich hatte auch nicht das Gefühl, als hätte ich ihm sonderlich viel zu sagen. Trotzdem hatte ich Angst. Angst vor dem was da kommen mochte. In einem Anflug von Zorn oder Groll etwas zu denken und zu entscheiden ist einfach, aber später mit dieser Entscheidung leben zu können, das ist etwas ganz anderes, und das wir damals, selbst in diesem jugendlichen Alter schon klar. Wieder begannn ich das Erwachsenwerden ein klein wenig zu hassen. Es war alles so kompliziert.

Ich schaute Theresa versonnen an, und bemerkte, daß sie scheinbar noch immer auf eine Antwort wartete, nur mir fiel nichts sinnvolles ein, nichts was ich hätte sagen wollen oder können.

"Ich weiß nicht", war die einzige Antwort die mir einfiel. Und ich bemerkte, wie mir die Tränen kamen, unkontrolliert, einfach nur so und ich wußte wirklich nicht einmal genau warum. Nicht daß ich einfach drauflos geheult hätte, aber die Tränen, die mir still über die Wangen liefen konnte ich dennoch nicht zurückhalten.

Ein Arm griff nach mir, zog mich zu sich, wiederstandlos ließ ich es geschehen, lag bald mehr auf meinem Stuhl als das ich saß, den Kopf in Theresas Schoß, sanft von ihr im Haar gekrault sprach ihre beruhigende tiefe Stimme zu mir: "Es wird schon wieder werden, Du schaffst das schon!"

Die Welt um mich herum löste sich allmählich auf, mir war es egal, was ich da gerade tat. Es tat einfach unendlich gut, sich anlehnen zu können, und ich genoß die Wärme die Theresas Körper abgab. Ich fühlte mich einfach nur behaglich geborgen. Es dauerte eine ganze Weile, biß ich mich wieder gefangen hatte und als ich aufblickte, sah ich Kai-jin, die mir gegenüber auf der weißen Holzbank an Frau Ratelli gelehnt saß. Ich hatte beide nicht k ommen hören. Das warme herzliche Lächeln Frau Ratellis mit dem sie mich ansah, verriet, das sie sich einfach ur Sorgen um uns machte, und das sie uns einfach nur unseren Schmerz ein wenig nehmen wollte. Und ich bewunderte diese rundliche, kleingewachsene Frau, die so viel Herzenswärme ausstrahlte.

"Theresa, du hast eine tolle Mutter!" raffte ich mich wieder auf. Theresa lächlete tiefgründig, und Frau Ratelli wurde rot.

Inzwischen war die Sonne hinter dem Hügel versunken, aber der Himmel war noch immer in ein orangenes Licht getaucht.

"Ich glaube ich habe da etwas für euch," und mit diesen Worten verschwand Frau Ratelli im Haus und kam mit einem Krug Wein und einem Tablett mit einfachen Gläsern zurück.

"Heute Abend dürft ihr das mal, ausnahmsweise, dann schlaft ihr auch gut!" und so schenkte sie uns allen ordentlich ein. Es dauerte nicht lange und ich merkte wie ich wirklich müde wurde, und Kai-jin schien es nicht anders zu gehen, und so verabschiedeten wir uns bei Zeiten auf unsere Zimmer.

Ich war einfach nur noch hundemüde und hatte das Gefühl als hätte ich wochenlang nicht geschlafen. Ich fiel, kaum hatte ich den Kopf auf der Matraze, in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen wurden wir von Theresa geweckt, nach einem kurzen Gang ins Bad und einem ebenso kurzen Frühstück fuhr ein Taxi auf den Hof um uns nach Livorno zum Bahnhof zu bringen.

Frau Ratelli versorgte uns mit allerlei guten Ratschlägen und einem Korb voller Leckereien, die Koffer wurden verladen und nach einer herzlichen Umarmung und einem Kuß für Theresa, den ich mir nicht verkneifen konnte, der aber von Frau Ratelli mit einem deutlichen Räuspern kommentiert wurde, ging es zum Bahnhof nach Livorno.

Die Stimmung war ziemlich bedrückt, und auch der ständig quatschende Taxifahrer, den wir mangels Italienischkenntnissen doch nicht verstanden konnten uns nicht aufheitern.

Am Bahnhof angekommen wurden wir vom Fahrer noch bis zum Informationsschalter im Bahnhof begleitet, wo man uns schon erwartete. Frau Ratelli hatte in Zusammenarbeit mit Mutter ganze Arbeit geleistet. Wir waren natürlich viel zu früh dran, und hatten noch gut eine Stunde Zeit. Einer der Mitarbeiter, der einigermaßen Deutsch verstand ,erklärte uns alles,von dem er glaubte uns würde es vielleicht interessieren. Nicht das es das wirklich tat, aber so ging die Zeit bis zu unserer endgültigen Abreise schneller vorüber und vor allem an Kai-jin schien der junge Mann besonderen Gefallen zu finden. Wieder mal war ich besonders stolz auf meine Schwester.

Endlich war es soweit, wir wurden noch zum Zug begleitet, sogar unsere Koffer brachte man uns ins Abteil. und schließlich rollten wir in den beginnenden Nachmittag hinein zurück Richtung Heimat.

In dieser Nacht, war mir einfach nur nach Schlafen zu mute und so machte ich ich recht zeitig bettfertig. Kai-jin ging es scheinbar nicht anders, und wie selbstverständlich kuschelten wir uns in einer Koje im Abteil des Schlafwagens zusammen.

Doch in dieser Nacht schlief ich bei weitem nicht so gut wie zuvor. Das immer wiederkehrende "Tacktack Tacktack des Zuges machte mich eher nervös, und hätte Kai-jin nicht auf meinem Arm geschlummert ich hätte mich bestimmt nervös hin und hergweorfen. Die kurzen Momente in denen ich einnickte wurde ich von schlimmen Träumen geplagt, in denen mich Erwachsene verfolgten, Fremde uns bedrohten und ich immer wieder erfolglos versuchte meine Schwester zu retten. Ich träumte von erfolglosen davonlaufen in einer Luft die aus zäher Flüssigkeit zu bestehen schien und alles unerträglich verlangsamte. Nur meine Gegner konnten sich scheinbar mühelos darin bewegen. Verfolgt von einer ganzen Horde schwarzer Gestalten, die alle das Gesicht meines Vaters trugen versuchte ich mich mit meiner Schwester im Arm zu retten und wußte doch nicht was mich mehr dabei bremste, meine Schwester, die ich fest im Arm hielt oder diese zähe bläuliche Masse, die mir das Atmen so schwer machte und bei der ich das Gefühl hatte, sie würde mir die Lungen verkleben.

Ein lautes Hämmern gegen die Abteiltür riß mich aus diesem Traum und von draußen rief ein Schaffner unsere Namen.

"Aufstehen, ihr müßt am nächsten Bahnhof umsteigen. Durch das Fenster fielen die ersten Strahlen der Morgendämmerung herein, und mir wurde so langsam klar wo ich war.

Noch einmal rief der Schaffner unsere Namen und ich antwortet durch die Tür, ich hätte ihn gehört.

Inzwischen war auch Kai-jin erwacht.

"Du hast nicht gut geschlafen!" kommentierte sie mein wahrscheinlich zerknittertes Gesicht.

"Nee, hab ich nicht!"

"Du hast die ganze Nacht gestöhnt und immer wieder meinen Namen geschrien. Hoffentlich machst Du das demnächst nicht zu Hause." und lächelnd gab sie mir einen Kuß.

Wir machten uns frisch, frühstückten etwas von den Sachen die uns Frau Ratelli eingepackt hatten und öffnetem dem abermals klopfenden Schaffenr die Tür. Es war Zeit umzusteigen.

Nach zwei weiteren Mal umsteigen fuhren wir schließlich in den Bahnhof von Limburg ein, mit mulmigen Gefühl im Magen, was uns nun erwarten würde, hatte unsere Heimat uns wieder.

Ich war gespannt wer uns am Bahnhof abholen würde, doch das ist eine andereGeschichte, die gibt es ein anderes mal....