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Die Schwester 27 - "Theresa"
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Ein lautes Poltern und Klopfen an der Korridortür riß mich aus dem Schlaf, und das laute, fast ängstliche Brüllen meines Vaters ließ mich elektrisiert aus dem Bett hochfahren.

„Georg, Katrin! Alles in Ordnung?“ wieder das hämmern an der Tür. Schnell sprang ich aus dem Bett, als mir auffiel, daß ich unbekleidet war. Schnell raffte ich meinen Schlafanzug zusammen und sprang förmlich hinein. Kai-jin, wo war Kai-jin schoß es mir durch den Kopf. Ich riß gerade die Tür auf, als meine Schwester an mir vorbeistürmte, um meinem Vater die Korridortür zu öffnen. Sie kam ebenfalls nur mit einem Nachthemd bekleidet aus meinem Zimmer gestürzt. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, das sie in der Nacht in mein Zimmer gegangen war, und fragte mich wieso sie das getan hatte.

Mein Vater war sichtlich erleichtert, als er uns sah, und er versuchte sich ein Lächeln abzuringen als er sagte: „Gott sei Dank, alles in Ordnung bei euch?“

Wir schauten uns nur etwas fragend an, „ja klar, was soll denn nicht in Ordnung sein?“ fragte Kai-jin, gerade so, als wäre dies ein ganz normaler Morgen.

„Ach nichts, schon gut“, schüttelte mein Vater den Kopf, und ich glaube heute, er hatte damals wirklich Angst, seine Kinder könnten sich vielleicht etwas angetan haben.

„Kommt ihr zum Frühstück?“ fragte er uns.

„Haben wir dazu denn noch Zeit?“ stellte ich die Gegenfrage in Anspielung auf unsere möglicherweise geplante Abreise.

„Ihr könnt hierbleiben wenn ihr wollt, ihr müßt nicht zurück nach Hause. Aber laßt uns darüber doch beim Frühstück reden!“

Ohne unsere Antwort abzuwarten drehte sich mein Vater um, und ging wieder die Treppe hinab zum Frühstück. Wir sparten uns die Dusche schlüpften in ein paar Klamotten und folgten meinem Vater zum Frühstück. Zu unserem Erstaunen saß Theresa mit am Tisch.

Nach den ersten Bissen begann mein Vater ein bißchen herumzudrucksen. Er entschuldigte sich recht kleinlaut für sein Verhalten in den letzten Jahren, er gab zu, daß er immer viel zu wenig für uns dagewesen sei, und das er wohl viel zu viel mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, er gab zu, daß er uns nicht hätte im unklaren lassen dürfen, daß es falsch war mit Christa auf dem Stadtfest herumzuturteln, ohne sie uns vorher überhaupt vorgestellt zu haben. Ich war erstaunt. So viel vorbehaltlose Selbstkritik hätte ich meinem Vater niemals zugetraut. Christa und vielleicht auch Theresa mußten ihm in der letzten Nacht ganz gehörig den Kopf gewaschen haben. Während ich mir aber über Theresas Rolle in diesem Spiel noch immer nicht ganz klar war, gab mein Vater uns aber auch zu verstehen, daß er nicht nur unsere Mutter sondern auch uns selbst als Familie ganz verlassen wolle. Er würde mit Christa zusammen nach New York gehen. Er hätte eingesehen, daß er seiner Rolle als Vater nie wirklich gerecht werden könnte, und er hielt es deswegen für besser uns ganz zu verlassen. Und so komisch das heute klingen mag, so ein großer Schock war das damals garnicht für mich. Mein Vater hatte sich, wie er selbst zugab sowieso viel zu wenig um uns gekümmert, und in vielerlei Beziehung war er eher ein guter Bekannter als ein enger Verwandter oder gar Vater. Irgendwie fühlte ich mich eher so als hätte mir ein Kumpel gerade erzählt, daß er mit seinen Eltern in eine andere Stadt umziehen würde, und nicht so, als hätte mir mein Vater gerade Lebewohl gesagt.

Irgendwie war die Situation äußerst komisch. Über den Vorfall des vergangenen Abends verlor mein Vater kein einziges Wort. Aber dafür kam er mit einer anderen Überraschung. Er sagte, er hätte sich von seiner Arbeit frei genommen, und würde heute noch nach Hause reisen. Christa würde ihn auf der Arbeit vertreten können, das hätte er bereits heute morgen so arrangiert. Wenn wir wollten, dann könnten wir mitfahren, aber wir könnten auch hier bei Theresa bleiben. Er würde dann zu Hause zusammen mit Mutter alles klären. Er sprach über alle diese Dinge so sachlich nüchtern, als gelte es eine Geschäftsverhandlung zu führen. Aber ich war damals auch garnicht in der Lage ihm großartig zu widersprechen oder gar mit ihm zu argumentieren. Dazu war ich dann eben doch noch zu sehr Kind. Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen, dann hätte dieses Frühstück sicherlich anders ausgesehen. So aber saßen wir, meine Schwester und ich, eher wie die Karnickel auf der Straße, und schauten gebannt in die Scheinwerfer des herannahenden PKWs, der uns sogleich über den Haufen fahren würde. Hier wurde gerade der Untergang unserer Familie beschlossen, und wir saßen ruhig da und frühstückten.

Wenn ich heute an dieses Frühstück zurückdenke, dann kommt es mir dermaßen surreal vor, daß man eher glauben könnte, es sei aus einem schlechten abstrakten Film herausgeschnitten, als das es wirklich so stattgefunden hätte. Ich frage mich auch manchmal, warum wir uns eigentlich nicht mehr gestritten haben, warum haben wir uns nicht gegenseitig mehr Vorwürfe gemacht, warum hatten wir eigentlich keine Angst, Angst um unsere Mutter, Angst um unsere Existenz, Angst vor dem Neuen was da kommen mochte, warum wurden wir eigentlich überhaupt nicht gefragt, wen interessierte was wir wollten, wo wir leben wollten, was wir uns vorstellten? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung.

Diesen Morgen und auch die restlichen Wochen unseres Urlaubs, die verlebte ich eher wie in Honig eingelegt. So als wäre das ganze Leben furchtbar zäh, alles, selbst das Denken schien hundertfach verlangsamt, und bevor ich überhaupt einen Gedanken in mir aufgenommen hatte, bevor ich überhaupt reagieren konnte, war alles schon vorbei.

Kai-jin schien es nicht besser zu gehen. Nahezu teilnahmslos starrte sie nicht meinen Vater sondern die ganze Zeit Theresa an, so als erwarte sie von ihr eine Reaktion, und ich fragte mich erneut, welche Rolle spielte eigentlich Theresa?

Nachdem mein Vater noch etwa eine halbe Stunde irgendetwas auf uns eingeredet hatte, von dem ich nichts so richtig verstand und mitbekam, reiste er tatsächlich ab Richtung Heimat, um die Trennung unserer Mutter beizubringen. Auch Christa, der die ganze Angelegenheit irgendwie peinlich schien verabschiedete sich, angeblich hatte sie noch irgendetwas zu tun, und so saßen wir ziemlich teilnahmslos und von den Ereignissen hoffnungslos überfahren im Speisezimmer der Ratellis.

Plötzlich begann Kai-jin laut zu schluchzen und zu heulen, „Geo, was machen wir denn jetzt?“

Ich war ratlos, absolut ratlos. Ich kam mir mit einem mal wieder so hilflos, so kindlich vor, aber ich konnte Kai-jin auch nicht weinend da sitzen sehen. Ich ging zu ihr, nahm sie liebevoll in den Arm und versuchte sie ein bißchen zu trösten.

„Sollen wir vielleicht ein bißchen spazieren gehen?“ fragte Theresa vorsichtig, so als traue sie sich kaum uns anzusprechen.

Ich hielt die Idee für gut, raus hier aus dem Haus, das mir mit einem mal furchtbar einengend vorkam. So nahmen wir Theresa in die Mitte, um sie besser führen zu können, und schlenderten langsam in die Felder hinaus. Und dann kamen wir zu einem Gatter das ich nur zu gut kannte, und als ich darauf zusteuerte merkte ich wie Theresa sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Sie wußte genau wo wir waren, aber sie sagte nichts.

Wieder setzten wir uns auf die Wiese, Theresa in der Mitte, Kai-jin rechts von ihr, ich links. Plötzlich begann Theresa zu erzählen. Sie erzählte von ihrem Vater, der seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht hatte, der ein versoffener Tyrann gewesen war, der seiner Frau die Schuld für das blinde Kind gegeben hatte, der seine Tochter immer wie eine Aussätzige behandelt hatte. Sie erzählte von dem cholerischen und brutalen Kerl der zuschlug wann immer sich die Gelgenheit dazu bot. Theresa erzählte wie oft sie sich seinen Tod gewünscht hatte, und wie sie bereits als 8-jährige daran gedacht hatte ihren Vater im Suff die Treppe herunterzustoßen, nachdem er mal wieder ihre Mutter grün und blau geschlagen hatte. Und sie erzählte von seinen perversen Grabschereien und Annäherungsversuchen, wenn er mal wieder sternhagelvoll Nachts nach Hause kam, während ihre Mutter noch auf der Spätschicht arbeitete, um die Familie durchzubringen, denn der Alkohol den ihr Vater soff, der wollte ja auch bezahlt werden. Und irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, aber sie brachte es nicht fertig ihren Vater die Treppe herunterzustoßen. Sie brachte es nicht fertig ihre Mutter um Hilfe zu bitten, und so hatte sie beschlossen selber die Treppe herunterzuspringen. Sie wohnten im 4. Stock, sie würde sich einfach über das Geländer stürzen. Und als sie entschlossen die Tür aufriß, um ihrem Leben ein Ende zu setzen sei sie geradewegs der Polizei in die Arme zu laufen. Polizisten, die meinten eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihr Vater hatte sich in seinem Suff mit seinem Auto um einen Baum gewickelt. Sie erinnerte sich noch genau wie sehr sie sich gefreut hatte, ja, sie hätte jubeln können, so glücklich, so befreit fühlte sie sich. Nur ihre Mutter, die hatte wochenlang geheult. Ihre Mutter wäre beinahe verzeifelt, sie hätte ihr Leben beinahe nicht alleine in den Griff bekommen, denn ihre Mutter war schwach. Aber Theresa hatte auch diese Situation gemeistert.

Und mit einem mal wußte ich, warum Theresa so war, wie wir sie kennengelernt hatten, plötzlich wußte ich warum Theresa sich an dem Abend an dem wir hier auf dem Hügel gewesen waren so verhalten hatte. Theresa hatte nie jemanden, der sie geliebt hat, der stark genug gewesen wäre, sie zu lieben. Und das erklärte auch warum sie sich gegenüber mir und Kai-jin so verhielt, obwohl sie wußte was zwischen uns geschah. Sie sah, daß wir uns liebten, und sie, die nie selber erfahren durfte was Liebe wirklich ist, wußte doch genau, daß sie so wertvoll ist, daß es ihr nicht zustände diese Liebe zu zerstören.

Ich war ihr in diesem Moment unendlich dankbar.

Kai-jin, die inzwischen selber aufgehört hatte zu weinen, schmiegte sich wie zum Trost an Theresa, sie lag auf dem Rücken auf der Wiese, den Kopf in Theresas Schoß, die sie sanft und zärtlich streichelte. So wie eine Mutter ihr Kind dachte ich spontan. Doch ich selbst hatte mich ebenfalls an Theresa gelehnt. Diese kleine Person, nicht mal 1,50 groß, schlank, ja schon fast dürr, blind und eigentlich recht hilflos, war plötzlich unser ganzer Halt.

Eine gähnende Leere überfiel mich und ich fühlte mich endlos müde. Ich ließ mich auf die Wiese nach hinten fallen und schon nach wenigen Minuten war ich eingedöst.

Als ich wieder erwachte, brannte mir die Sonne furchtbar ins Gesicht und meine beiden Arme waren wie abgestorben. Auf dem einen Arm lag Theresa, den Kopf auf meiner Brust, auf dem Anderen Arm lag Kai-jin, den Kopf auf meinem Bauch. Beide Mädchen streichelten sich zärtlich gegenseitig ihr Gesicht.

Ein wunderbares Bild, voller Gefühl, Liebe und Zärtlichkeit.

Vorsichtig zog ich meine Arme unter den beiden Mädchen hervor und nahm sie beide zärtlich in den Arm.

„Was meint ihr, sollten wir uns nicht langsam auf den Rückweg machen und sehen ob wir nicht was eßbares auftreiben können? Ich habe einen Bärenhunger!“ gab ich zu bedenken.

„Gute Idee“ bestätigten beide, und so schlenderten wir alle zusammen Arm in Arm zurück zum Hof, und mit einem Mal fühlte ich mich wieder richtig gut. Mir wurde bewußt, wie gut es mir eigentlich ging. Zum Teufel mit meinem Vater, sollte er doch gehen, wenn er das unbedingt wollte. Er war ja sowieso fast nie für uns dagewesen. Verglichen mit Theresa hatten wir doch bisher geradezu eine Lenage Jugend und Kindheit verlebt. Ich hatte einen Menschen an meiner Seite, der mir alles bedeutete, und ich war mir sicher Kai-jin ging es genauso. Und mit Theresa hatten wir nun eine echte Freundin, nein mehr, eine Verbündete, eine im Geiste Verwandte.

Als wir auf dem Hof ankamen, wurden wir von Frau Ratelli schon erwartet. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, aber wohl mehr darum das sie auf ihrem Mittagessen sitzen bleiben würde, als das uns etwas zugestoßen sein könnte.

Auch das Essen schmeckte uns mit einem Mal wieder, und noch während des Essens überlegten wir, was wir denn am Nachmittag unternehmen könnten. Theresa meinte, sie kenne einen wunderschönen Ort, wo es uns bestimmt gefallen würde, aber dahin müßten wir sie auf dem Fahrrad mitnehmen. Ich war etwas skeptisch, ob das denn gut gehen konnte. Doch Theresa beruhigte mich, damit, das sie erzählte, so sei sie immer zusammen mit Freunden losgezogen, so lange diese noch keinen Führerschein gehabt hätten.

Und so holten wir nach dem Mittagessen die Fahrräder, ich nahm jedoch das Fahrrad von Frau Ratelli und nicht das alte Klapprad, denn darauf hätte ich Theresa bestimmt nicht mitbekommen, uns so ließen wir uns von Theresa durch die Hügel der Toscana führen. Sie war eine erstaunlich gute Navigatorin und wußte eigentlich immer wo wir gerade waren und wo wir abbiegen mußten. So fuhren wir zwischen Feldern und Weinbergen, bis wir plötzlich am Ufer eines kleines ruhigen Sees standen.

Aber das ist eine andere Geschichte, die gibt es ein anderes mal.