Ein lautes
Poltern und Klopfen an der Korridortür riß mich aus dem Schlaf, und das
laute, fast ängstliche Brüllen meines Vaters ließ mich elektrisiert aus
dem Bett hochfahren.
„Georg, Katrin! Alles in Ordnung?“ wieder das hämmern an der Tür. Schnell
sprang ich aus dem Bett, als mir auffiel, daß ich unbekleidet war. Schnell
raffte ich meinen Schlafanzug zusammen und sprang förmlich hinein.
Kai-jin, wo war Kai-jin schoß es mir durch den Kopf. Ich riß gerade die
Tür auf, als meine Schwester an mir vorbeistürmte, um meinem Vater die
Korridortür zu öffnen. Sie kam ebenfalls nur mit einem Nachthemd bekleidet
aus meinem Zimmer gestürzt. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, das sie in
der Nacht in mein Zimmer gegangen war, und fragte mich wieso sie das getan
hatte.
Mein Vater war sichtlich erleichtert, als er uns sah, und er versuchte
sich ein Lächeln abzuringen als er sagte: „Gott sei Dank, alles in Ordnung
bei euch?“
Wir schauten uns nur etwas fragend an, „ja klar, was soll denn nicht in
Ordnung sein?“ fragte Kai-jin, gerade so, als wäre dies ein ganz normaler
Morgen.
„Ach nichts, schon gut“, schüttelte mein Vater den Kopf, und ich glaube
heute, er hatte damals wirklich Angst, seine Kinder könnten sich
vielleicht etwas angetan haben.
„Kommt ihr zum Frühstück?“ fragte er uns.
„Haben wir dazu denn noch Zeit?“ stellte ich die Gegenfrage in Anspielung
auf unsere möglicherweise geplante Abreise.
„Ihr könnt hierbleiben wenn ihr wollt, ihr müßt nicht zurück nach Hause.
Aber laßt uns darüber doch beim Frühstück reden!“
Ohne unsere Antwort abzuwarten drehte sich mein Vater um, und ging wieder
die Treppe hinab zum Frühstück. Wir sparten uns die Dusche schlüpften in
ein paar Klamotten und folgten meinem Vater zum Frühstück. Zu unserem
Erstaunen saß Theresa mit am Tisch.
Nach den ersten Bissen begann mein Vater ein bißchen herumzudrucksen. Er
entschuldigte sich recht kleinlaut für sein Verhalten in den letzten
Jahren, er gab zu, daß er immer viel zu wenig für uns dagewesen sei, und
das er wohl viel zu viel mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, er gab
zu, daß er uns nicht hätte im unklaren lassen dürfen, daß es falsch war
mit Christa auf dem Stadtfest herumzuturteln, ohne sie uns vorher
überhaupt vorgestellt zu haben. Ich war erstaunt. So viel vorbehaltlose
Selbstkritik hätte ich meinem Vater niemals zugetraut. Christa und
vielleicht auch Theresa mußten ihm in der letzten Nacht ganz gehörig den
Kopf gewaschen haben. Während ich mir aber über Theresas Rolle in diesem
Spiel noch immer nicht ganz klar war, gab mein Vater uns aber auch zu
verstehen, daß er nicht nur unsere Mutter sondern auch uns selbst als
Familie ganz verlassen wolle. Er würde mit Christa zusammen nach New York
gehen. Er hätte eingesehen, daß er seiner Rolle als Vater nie wirklich
gerecht werden könnte, und er hielt es deswegen für besser uns ganz zu
verlassen. Und so komisch das heute klingen mag, so ein großer Schock war
das damals garnicht für mich. Mein Vater hatte sich, wie er selbst zugab
sowieso viel zu wenig um uns gekümmert, und in vielerlei Beziehung war er
eher ein guter Bekannter als ein enger Verwandter oder gar Vater.
Irgendwie fühlte ich mich eher so als hätte mir ein Kumpel gerade erzählt,
daß er mit seinen Eltern in eine andere Stadt umziehen würde, und nicht
so, als hätte mir mein Vater gerade Lebewohl gesagt.
Irgendwie war die Situation äußerst komisch. Über den Vorfall des
vergangenen Abends verlor mein Vater kein einziges Wort. Aber dafür kam er
mit einer anderen Überraschung. Er sagte, er hätte sich von seiner Arbeit
frei genommen, und würde heute noch nach Hause reisen. Christa würde ihn
auf der Arbeit vertreten können, das hätte er bereits heute morgen so
arrangiert. Wenn wir wollten, dann könnten wir mitfahren, aber wir könnten
auch hier bei Theresa bleiben. Er würde dann zu Hause zusammen mit Mutter
alles klären. Er sprach über alle diese Dinge so sachlich nüchtern, als
gelte es eine Geschäftsverhandlung zu führen. Aber ich war damals auch
garnicht in der Lage ihm großartig zu widersprechen oder gar mit ihm zu
argumentieren. Dazu war ich dann eben doch noch zu sehr Kind. Wäre ich ein
paar Jahre älter gewesen, dann hätte dieses Frühstück sicherlich anders
ausgesehen. So aber saßen wir, meine Schwester und ich, eher wie die
Karnickel auf der Straße, und schauten gebannt in die Scheinwerfer des
herannahenden PKWs, der uns sogleich über den Haufen fahren würde. Hier
wurde gerade der Untergang unserer Familie beschlossen, und wir saßen
ruhig da und frühstückten.
Wenn ich heute an dieses Frühstück zurückdenke, dann kommt es mir dermaßen
surreal vor, daß man eher glauben könnte, es sei aus einem schlechten
abstrakten Film herausgeschnitten, als das es wirklich so stattgefunden
hätte. Ich frage mich auch manchmal, warum wir uns eigentlich nicht mehr
gestritten haben, warum haben wir uns nicht gegenseitig mehr Vorwürfe
gemacht, warum hatten wir eigentlich keine Angst, Angst um unsere Mutter,
Angst um unsere Existenz, Angst vor dem Neuen was da kommen mochte, warum
wurden wir eigentlich überhaupt nicht gefragt, wen interessierte was wir
wollten, wo wir leben wollten, was wir uns vorstellten? Ich habe ehrlich
gesagt keine Ahnung.
Diesen Morgen und auch die restlichen Wochen unseres Urlaubs, die verlebte
ich eher wie in Honig eingelegt. So als wäre das ganze Leben furchtbar
zäh, alles, selbst das Denken schien hundertfach verlangsamt, und bevor
ich überhaupt einen Gedanken in mir aufgenommen hatte, bevor ich überhaupt
reagieren konnte, war alles schon vorbei.
Kai-jin schien es nicht besser zu gehen. Nahezu teilnahmslos starrte sie
nicht meinen Vater sondern die ganze Zeit Theresa an, so als erwarte sie
von ihr eine Reaktion, und ich fragte mich erneut, welche Rolle spielte
eigentlich Theresa?
Nachdem mein Vater noch etwa eine halbe Stunde irgendetwas auf uns
eingeredet hatte, von dem ich nichts so richtig verstand und mitbekam,
reiste er tatsächlich ab Richtung Heimat, um die Trennung unserer Mutter
beizubringen. Auch Christa, der die ganze Angelegenheit irgendwie peinlich
schien verabschiedete sich, angeblich hatte sie noch irgendetwas zu tun,
und so saßen wir ziemlich teilnahmslos und von den Ereignissen
hoffnungslos überfahren im Speisezimmer der Ratellis.
Plötzlich begann Kai-jin laut zu schluchzen und zu heulen, „Geo, was
machen wir denn jetzt?“
Ich war ratlos, absolut ratlos. Ich kam mir mit einem mal wieder so
hilflos, so kindlich vor, aber ich konnte Kai-jin auch nicht weinend da
sitzen sehen. Ich ging zu ihr, nahm sie liebevoll in den Arm und versuchte
sie ein bißchen zu trösten.
„Sollen wir vielleicht ein bißchen spazieren gehen?“ fragte Theresa
vorsichtig, so als traue sie sich kaum uns anzusprechen.
Ich hielt die Idee für gut, raus hier aus dem Haus, das mir mit einem mal
furchtbar einengend vorkam. So nahmen wir Theresa in die Mitte, um sie
besser führen zu können, und schlenderten langsam in die Felder hinaus.
Und dann kamen wir zu einem Gatter das ich nur zu gut kannte, und als ich
darauf zusteuerte merkte ich wie Theresa sich ein Lächeln nicht verkneifen
konnte. Sie wußte genau wo wir waren, aber sie sagte nichts.
Wieder setzten wir uns auf die Wiese, Theresa in der Mitte, Kai-jin rechts
von ihr, ich links. Plötzlich begann Theresa zu erzählen. Sie erzählte von
ihrem Vater, der seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht hatte, der ein
versoffener Tyrann gewesen war, der seiner Frau die Schuld für das blinde
Kind gegeben hatte, der seine Tochter immer wie eine Aussätzige behandelt
hatte. Sie erzählte von dem cholerischen und brutalen Kerl der zuschlug
wann immer sich die Gelgenheit dazu bot. Theresa erzählte wie oft sie sich
seinen Tod gewünscht hatte, und wie sie bereits als 8-jährige daran
gedacht hatte ihren Vater im Suff die Treppe herunterzustoßen, nachdem er
mal wieder ihre Mutter grün und blau geschlagen hatte. Und sie erzählte
von seinen perversen Grabschereien und Annäherungsversuchen, wenn er mal
wieder sternhagelvoll Nachts nach Hause kam, während ihre Mutter noch auf
der Spätschicht arbeitete, um die Familie durchzubringen, denn der Alkohol
den ihr Vater soff, der wollte ja auch bezahlt werden. Und irgendwann
hielt sie es nicht mehr aus, aber sie brachte es nicht fertig ihren Vater
die Treppe herunterzustoßen. Sie brachte es nicht fertig ihre Mutter um
Hilfe zu bitten, und so hatte sie beschlossen selber die Treppe
herunterzuspringen. Sie wohnten im 4. Stock, sie würde sich einfach über
das Geländer stürzen. Und als sie entschlossen die Tür aufriß, um ihrem
Leben ein Ende zu setzen sei sie geradewegs der Polizei in die Arme zu
laufen. Polizisten, die meinten eine traurige Nachricht zu überbringen.
Ihr Vater hatte sich in seinem Suff mit seinem Auto um einen Baum
gewickelt. Sie erinnerte sich noch genau wie sehr sie sich gefreut hatte,
ja, sie hätte jubeln können, so glücklich, so befreit fühlte sie sich. Nur
ihre Mutter, die hatte wochenlang geheult. Ihre Mutter wäre beinahe
verzeifelt, sie hätte ihr Leben beinahe nicht alleine in den Griff
bekommen, denn ihre Mutter war schwach. Aber Theresa hatte auch diese
Situation gemeistert.
Und mit einem mal wußte ich, warum Theresa so war, wie wir sie
kennengelernt hatten, plötzlich wußte ich warum Theresa sich an dem Abend
an dem wir hier auf dem Hügel gewesen waren so verhalten hatte. Theresa
hatte nie jemanden, der sie geliebt hat, der stark genug gewesen wäre, sie
zu lieben. Und das erklärte auch warum sie sich gegenüber mir und Kai-jin
so verhielt, obwohl sie wußte was zwischen uns geschah. Sie sah, daß wir
uns liebten, und sie, die nie selber erfahren durfte was Liebe wirklich
ist, wußte doch genau, daß sie so wertvoll ist, daß es ihr nicht zustände
diese Liebe zu zerstören.
Ich war ihr in diesem Moment unendlich dankbar.
Kai-jin, die inzwischen selber aufgehört hatte zu weinen, schmiegte sich
wie zum Trost an Theresa, sie lag auf dem Rücken auf der Wiese, den Kopf
in Theresas Schoß, die sie sanft und zärtlich streichelte. So wie eine
Mutter ihr Kind dachte ich spontan. Doch ich selbst hatte mich ebenfalls
an Theresa gelehnt. Diese kleine Person, nicht mal 1,50 groß, schlank, ja
schon fast dürr, blind und eigentlich recht hilflos, war plötzlich unser
ganzer Halt.
Eine gähnende Leere überfiel mich und ich fühlte mich endlos müde. Ich
ließ mich auf die Wiese nach hinten fallen und schon nach wenigen Minuten
war ich eingedöst.
Als ich wieder erwachte, brannte mir die Sonne furchtbar ins Gesicht und
meine beiden Arme waren wie abgestorben. Auf dem einen Arm lag Theresa,
den Kopf auf meiner Brust, auf dem Anderen Arm lag Kai-jin, den Kopf auf
meinem Bauch. Beide Mädchen streichelten sich zärtlich gegenseitig ihr
Gesicht.
Ein wunderbares Bild, voller Gefühl, Liebe und Zärtlichkeit.
Vorsichtig zog ich meine Arme unter den beiden Mädchen hervor und nahm sie
beide zärtlich in den Arm.
„Was meint ihr, sollten wir uns nicht langsam auf den Rückweg machen und
sehen ob wir nicht was eßbares auftreiben können? Ich habe einen
Bärenhunger!“ gab ich zu bedenken.
„Gute Idee“ bestätigten beide, und so schlenderten wir alle zusammen Arm
in Arm zurück zum Hof, und mit einem Mal fühlte ich mich wieder richtig
gut. Mir wurde bewußt, wie gut es mir eigentlich ging. Zum Teufel mit
meinem Vater, sollte er doch gehen, wenn er das unbedingt wollte. Er war
ja sowieso fast nie für uns dagewesen. Verglichen mit Theresa hatten wir
doch bisher geradezu eine Lenage Jugend und Kindheit verlebt. Ich hatte
einen Menschen an meiner Seite, der mir alles bedeutete, und ich war mir
sicher Kai-jin ging es genauso. Und mit Theresa hatten wir nun eine echte
Freundin, nein mehr, eine Verbündete, eine im Geiste Verwandte.
Als wir auf dem Hof ankamen, wurden wir von Frau Ratelli schon erwartet.
Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, aber wohl mehr darum das sie auf
ihrem Mittagessen sitzen bleiben würde, als das uns etwas zugestoßen sein
könnte.
Auch das Essen schmeckte uns mit einem Mal wieder, und noch während des
Essens überlegten wir, was wir denn am Nachmittag unternehmen könnten.
Theresa meinte, sie kenne einen wunderschönen Ort, wo es uns bestimmt
gefallen würde, aber dahin müßten wir sie auf dem Fahrrad mitnehmen. Ich
war etwas skeptisch, ob das denn gut gehen konnte. Doch Theresa beruhigte
mich, damit, das sie erzählte, so sei sie immer zusammen mit Freunden
losgezogen, so lange diese noch keinen Führerschein gehabt hätten.
Und so holten wir nach dem Mittagessen die Fahrräder, ich nahm jedoch das
Fahrrad von Frau Ratelli und nicht das alte Klapprad, denn darauf hätte
ich Theresa bestimmt nicht mitbekommen, uns so ließen wir uns von Theresa
durch die Hügel der Toscana führen. Sie war eine erstaunlich gute
Navigatorin und wußte eigentlich immer wo wir gerade waren und wo wir
abbiegen mußten. So fuhren wir zwischen Feldern und Weinbergen, bis wir
plötzlich am Ufer eines kleines ruhigen Sees standen.
Aber das ist eine andere Geschichte, die gibt es ein anderes mal.
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