Blinzelnd
öffnete ich die Augen, und mit noch etwas verschwommenem Blick sah ich in
die Augen meiner Schwester. Ich erschrak. Ihre Augen waren rotgeweint und
lagen tief in in ihren Höhlen, die von dunklen Rändern eingefaßt waren.
Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, ich hätte nie geglaubt, das sich
die Augen eines Menschen in so kurzer Zeit so stark verändern konnten.
Verschwunden war das fröhliche Leuchten, das sonst so strahlende Grün
wirkte matt. Ich schaute auf den Radiowecker um zu wissen, wie spät es
bereits war und war erstaunt, als ich dort die Ziffern 03:25 sah. Das
konnte nicht sein, denn dann war es ja noch mitten in der Nacht. Ich
schaute zum Fenster und konnte durch die geschlossenen Vorhänge keinen
einzigen Lichtschimmer entdecken. Erst jetzt viel mir auf, daß die
Zimmerbeleuchtung brannte. Hatte ich sie angelassen? Und was machte
Kai-jin um diese Zeit in meinem Bett? Und überhaupt, wie sah sie
eigentlich aus?
Dies alles spielte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ab, aber ich
brauchte eine Weile, diese Informationen alle zu verarbeiten. Schließlich
hatte sie mich gerade aus dem tiefsten Schlaf geholt.
„Was ist passiert?“ fragte ich immer noch entsetzt darüber, wie Kai-jin
aussah.
Doch sie begann nur zu weinen und flehte mit weinerlicher Stimme: „Darf
ich hierbleiben?“
Was sollte ich tun? Ich konnte sie doch in diesem Zustand nicht einfach
wegschicken. Aber was war, wenn man uns so hier fand? Schließlich waren
wir erst gestern knapp der Entdeckung entgangen. Aber nach den Erlebnissen
der letzten Nacht war mir das egal. Was sollte schon passieren. Theresa
konnte uns so finden, aber was wollte sie dann machen? Etwa zu ihrer
Mutter laufen um uns zu verpetzen; 'Hallo Mama ich habe unsere Gäste
gerade im Bett erwischt, aber sprich sie bitte nicht darauf an, denn sonst
könnte es sein, das Georg dir erzählt wer da letzte Nacht das halbe Dorf
zusammengeschrien hat.'; oder sie ging zu unserem Vater, wenn er am
Wochenende zurückkam; 'Hallo Herr Leuchters, ich habe ihre Kinder zusammen
im Bett erwischt...' ich brauchte die Gedanken garnicht zu Ende denken.
Ich war sicher, sie würde nichts sagen.
„Was ist nun, darf ich bei dir bleiben? Bitte!“ flehte Kai-jin.
„Ja, aber nun erzähl doch bitte erst mal was passiert ist.“ drängte ich
sie, denn ich wollte wissen, wer oder was sie in diesen jämmerlichen
Zustand versetzt hatte. Doch meine Schwester stand auf, schaltete die
Zimmerbeleuchtung aus, und begann sich ihrer Kleider zu entledigen. Ich
wußte nun überhaupt nicht, was das zu bedeuten hatte, sie mußte sich doch
vor mir nicht verstecken. Wieso schaltete sie das Licht aus bevor sie mit
dem Entkleiden begann. Sie legte doch sonst keinen Wert darauf. Meine
Besorgnis stieg und noch einmal hakte ich nach: „nun sag schon, was ist
passiert!“
Doch ich bekam keine Antwort. Statt dessen weinte Kai-jin weiter vor sich
hin und kuschelte sich eng an mich. In dieser Nacht war schon so viel
passiert, was ich nicht so recht begreifen konnte, und es schien nicht
besser zu werden. So gab ich auf, und um meine Schwester wenigstens ein
bißchen zu trösten, nahm ich sie zärtlich in den Arm, kuschelte mich an
sie und wischte ihr vorsichtig im Dunkeln über ihr feuchtes Gesicht. Ich
genoß einfach das Gefühl ihres warmen weichen Körpers an meiner Seite. Es
war ein schönes Gefühl, ohne sexuelle Hintergedanken mit ihr hier zu
liegen und sich einfach nur eng aneinander zu schmiegen. Viele Gedanken
schossen mir durch den Kopf und gerne hätte ich Kai-jin mit Fragen
gelöchert, aber ihr war eben nicht nach Reden zu Mute, und so beließ ich
es. Sie brauchte einfach nur meine Nähe, und das war das wenigste, was ich
tun konnte. Ich spürte, wie sie sich nach und nach beruhigte, und ihr Atem
immer flacher wurde. Sie schlief in meinen Armen ein, und so verfiel auch
ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf aus dem ich ein paarmal kurz
erwachte und immer spürte ich meine Schwester neben mir. Ihr langsamer
flacher Atem verriet mir, daß sie schlief, und so schlief auch ich wieder
ein.
Nach unruhigem Schlaf erwachte ich am Morgen, und diesmal war es wirklich
Morgens, denn ich konnte die Sonne durch die Vorhänge meines Fensters
sehen. Ein Blick auf den Radiowecker verriet mir, daß es kurz nach sieben
war. Kai-jin lag noch immer zusammengerollt neben mir. Die Decke hatte sie
ein wenig beiseite gestrampelt, auch sie hatte wohl nicht ganz so ruhig
geschlafen, wie ich in der Nacht zunächst noch angenommen hatte. Ich
betrachtete sie sorgfältig, und stellte mit Schrecken fest, das ihr Körper
mit zahlreichen blauen Flecken übersät war. Hatte sie eine Unfall gehabt?
Was war mit Luigi? Wie war sie zurückgekommen und vor allem wann? So als
hätte sie meine Gedanken bemerkt oder als hätte ich laut gesprochen drehte
sich Kai-jin zu mir um und öffnete blinzelnd die Augen.
„Guten morgen Kleines!“ begrüßte ich sie liebevoll. Sie sah immer noch
schrecklich aus. So als hätte sie ein tagelanges Gelage hinter sich. Sie
bemühte sich jedoch ein Lächeln hervorzubringen. Als sie aber bemerkte,
wie ich ihren geschundenen Körper betrachtete, zog sie schnell die Decke
zu sich heran.
„Was ist passiert?“ versuchte ich erneut mehr in Erfahrung zu bringen. Ich
hatte die zahlreichen blauen Flecken auf ihren sonst so makellosen Beinen
entdeckt. „Hattet ihr einen Unfall?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen,
obwohl ich wußte, das etwas anderes passiert sein mußte.
Endlich brach Kai-jin ihr Schweigen, und mit Tränen in den Augen erzälte
sie, eng an mich gekuschelt, die Erlebnisse der letzten Nacht. Nachdem sie
Theresa und mich an der Wegbiegung abgesetzt hatten, waren sie noch ein
Weilchen durch die Landschaft gefahren, und Kai-jin hatte die Situation
ausgenutzt Luigi richtig heiß zu machen. Auf einem abgelegenen Seitenweg
habe er dann angehalten, und eigentlich hätte die Nacht richtig schön
werden sollen, doch Luigi sei sehr grob gewesen und viel zu hektisch. Das
hatte Kai-jin so sehr gestört das sie schließlich die Lust verloren habe.
Doch Luigi sei da schon nicht mehr zu bremsen gewesen. Sie habe sich
schließlich nicht mehr anders zu helfen gewußt, als sich mit ein paar
Tricks aus der Sportschule zu wehren. Da sei Luigi vollkommen ausgerastet,
habe sie zunächst verprügelt und übelst beschimpft und dann versucht über
die herzufallen. Als sie sich weiterhin wehrte, habe er sie noch brutaler
geschlagen. Nachdem Luigi sich abreagiert hatte, sei er dann in sein Auto
gestiegen und davon gefahren. Sie habe erst nach fast 3 Stunden den Hof
der Ratellis wiedergefunden und habe Angst gehabt alleine in ihrem Zimmer
zu übernachten.
Die letzten Worte hatte Kai-jin kaum noch verständlich über die Lippen
gebracht so stark heulte und schluchzte sie bereits wieder.
In mir stieg unbändige Wut auf. Wilde Gedanken kreisten in meinem Schädel,
und ich hörte mich selbst nur leise murmeln: „Ich bringe ihn um! Ich mache
den kalt!“
Doch Kai-jin versuchte meine Emotionen zu bremsen, sie rüttelte mich
flehentlich: „Nein Geo, bat sie mich, das wirst du nicht tun, du tust
garnichts der gleichen! Bitte, laß das! Sowas darfst du nicht mal denken!“
Ich brauchte eine ganze Weile, bevor ich mich wieder einigermaßen beruhigt
hatte, und auch wenn ich mich gegenüber meiner Schwester so gab, als wäre
ich wieder ganz ruhig, so gärte in mir doch der Wunsch nach Rache. Ich
mußte an die letzte Nacht mit Theresa denken, und wurde den Verdacht nicht
los, daß das ganze vielleicht ein abgekarrtes Spiel gewesen war. Ich
erzählte meiner Schwester jedoch noch nichts von meinen Erlebnissen mit
Theresa, das wollte ich ihr jetzt nicht antun.
Ich schlug vor, das wir uns zunächst erst mal etwas frisch machten, und
niemandem etwas erzählten. Mein Vater würde sowieso frühestens in 5 Tagen
wieder hier sein, und zu Theresa oder Frau Ratelli wollte ich auf keinen
Fall gehen. Kai-jin war immer noch sehr verstört und wollte nicht mal
alleine ins Bad gehen. Die letzte Nacht mußte für sie wirklich schrecklich
gewesen sein. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie ins Bad zu
begleiten. Ich blieb die ganze Zeit auf der Toilette sitzen, während sie
sich duschte und auch sie verließ das Bad nicht, als ich unter die Dusche
ging. Anschließend gingen wir in ihr Zimmer und suchten ein paar Sachen
zum anziehen, die zwar luftig waren, denn es würde bestimmt wieder heiß
werden, die aber lang genug waren, ihre blauen Flecken zu überdecken.
Wir waren gerade fertig und wollten nachsehen ob das Frühstück fertig war,
da hörten wir Theresa die Treppe heraufkommen. Noch einmal bat ich Kai-jin
flüsternd sich nichts anmerken zu lassen.
Theresa begrüßte uns gewohnt freundlich, und ließ sich überhaupt nichts
anmerken. Sie war nur etwas verwundert, daß wir heute schon so früh auf
den Beinen waren. Als wir an ihr vorbeigingen, denn ich hatte wahrlich
keine große Lust ihr heute viel Aufmerksamkeit zu schenken, versuchte sie
nur kurz, mich festzuhalten. Scheinbar wollte sie etwas von mir. Aber mir
war jegliche Lust an Theresa vergangen und so wehrte ich sie nur unwirsch
ab und fauchte sie an, sie solle mich in Ruhe lassen. Die Überraschung in
ihrem Gesicht war nicht gespielt, das erkannte ich. Dennoch ließ ich sie
einfach auf dem Treppenabsatz stehen und folgte meiner Schwester in die
große Küche.
Ich hatte nach der anstrengenden Nacht einen Bärenhunger und konnte
garnicht genug von dem frischen Brot und dem leckeren Käse bekommen.
Kai-jin hatte keinen großen Appetit und mümmelte verloren an einem halben
Brötchen herum. Frau Ratelli fiel das sofort auf, und als sie Kai-jin
genauer betrachtet hatte, fragte sie besorgt:
„Kindchen, was ist denn mit dir passiert? War der Abend in der Stadt so
anstrengend oder habt ihr etwa Alkohol getrunken?“
Meine Schwester schaffte es, sich ein Lächeln abzuringen und meinte nur
sie hätte nach der letzten anstrengenden Nacht sehr schlecht geschlafen.
Mehr verriet sie nicht. Ich beobachtete währenddessen Theresa und
versuchte aus ihrem Gesicht irgendeine Reaktion abzulesen. Aber sie
lächelte nur genauso vieldeutig wie ihre Mutter, was leider keine
Rückschlüsse darauf zuließ, ob sie bereits etwas von der vergangenen Nacht
wußte. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, das sie bereits mit Luigi
telefoniert hatte.
Nach dem Essen meinte Frau Ratelli dann, sie wolle heute noch zum
Einkaufen, und Theresa könnte doch Luigi fragen, ob er nicht fahren
könnte, dann bräuchte sie die Einkäufe nicht mit dem Fahrrad zu machen,
und außerdem könnten wir dann ja mitfahren und uns den Ort mal bei Tage
ansehen. Kai-jin hätte vor Schreck beinahe ihr Brötchen fallen lassen und
schaute mich entsetzt an.
Ich behauptete, das wir keine Lust hätten in die Stadt zu gehen, wir
wollten stattdessen lieber noch einmal mit dem Fahrrad die Gegend
erkunden. Frau Ratelli zuckte nur ratlos mit den Schultern, so als wolle
sie sagen, man könne der Jugend wohl heute garnichts mehr recht machen.
Nur Theresa schaute ziemlich überrascht drein, so als hätte sie von
Kai-jin eigentlich einen Jubelschrei erwartet, und nicht diese unterkühlte
Abneigung.
Nach dem Frühstück machten wir uns so schnell es ging, ohne aber in
aufsehenerregende Hektik zu verfallen vom Hof. Dabei fuhren wir aber gar
nicht weit, sondern nur bis zum gegenüberliegenden Hügel etwa 2 km von
Ratellis Hof entfernt. Wir wollten einfach nur nicht dort sein. Das war
alles. Wir setzten uns auf eine Wiese und beobachteten den Hof der
Ratellis, denn wir waren gespannt, ob Luigi sich dort hin trauen würde,
oder ob er Angst hatte Kai-jin oder mir zu begegnen. Nachdem wir etwa eine
Stunde lang aneinandergelehnt und schweigend den Hof beobachtet hatten.
Sahen wir Frau Ratelli mit dem Fahrrad Richtung Stadt fahren.
„Siehst du!“ sagte ich zu Kai-jin, „er traut sich nichtmal hierher!“
„So ein Feigling!“ schimpfte sie leise.
„Vielleicht hat er Angst, oder es ist ihm furchtbar peinlich, daß ihm
soetwas passiert ist. Wahrscheinlich hat er einfach nur ein schlechtes
Gewissen, und weiß nun nicht, was er tun soll.“ warf ich ein.
„Hoffentlich leidet er wenigstens ein bißchen unter seinem schlechten
Gewissen“, gab Kai-jin seufzend zur Antwort.
„War es denn wirklich so schlimm?“ fragte ich etwas besorgt.
„Die Schläge? Natürlich! Der hat einen ganz schönen Hau. Gott sei Dank hat
er mich nicht im Gesicht getroffen, dann hätte ich heute wohl ein
gewaltiges Veilchen und das wäre beim Frühstück wirklich schwierig zu
erklären gewesen.“ Sie mußte sogar ein klein wenig Lächeln, als sie diese
Worte sprach, und mir wurde richtig warm ums Herz, als ich ihr Lächeln
sah. Das machte mir Hoffnung, das Kai-jin nicht ewig an diesem Vorfall zu
knabbern haben würde.
„Nein, ich meinte eigentlich nicht die Schläge!“ korrigierte ich meine
Frage ein bißchen. „Ich meinte das, was er anschließend mit dir gemacht
hat?“ umschrieb ich vorsichtig das etwas heikle Thema.
„Danach ist er einfach abgehauen, mehr war da nicht!“
„Wirklich nicht?“ fragte ich noch einmal besorgt nach.
„Nein, wirklich nicht, keine Sorge! Ich glaube das hätte auch garnicht
mehr geklappt!“ und wieder lächelte Kai-jin.
Wieso? Nun war ich etwas erstaunt, wieso solte er dazu nicht mehr in der
Lage gewesen sein fragte ich mich. Man las doch immer wieder von Männern,
die in einem Wutanfall eine Frau vergewaltigt hatten.
„Ich habe mich doch gewehrt, und ihm dabei wohl einige Male ziemlich
kräftig an seine empfindlichste Stelle getreten. Als er nämlich von mir
abgelassen hat, hatte er enorme Schwierigkeiten noch aufrecht zu gehen!“
Nun mußte Kai-jin sogar Lachen. Ich war glücklich darüber, das sie das
schon wieder konnte, obwohl sie sich ihren Bauch hielt und schmerzhaft das
Gesicht verzog. Luigi mußte wirklich ganz schön zugeschlagen haben. Na der
würde was erleben, wenn er mir über den Weg lief, aber das sagte ich nicht
laut, denn ich wollte diese Gedanken mit niemanden teilen, auch nicht mit
Kai-jin.
Wir mußten lange schweigend auf dem Hügel nebeneinander gesessen haben,
denn irgendwann sahen wir Frau Ratelli mit dem Fahrrad aus der Stadt
zurückkommen. Ich weiß nicht mehr genau über was ich dieser Zeit alles
nachgedacht habe. Vieles ist mir durch den Kopf gegangen, vieles sieht man
heute, Jahre später, als Erwachsener vielleicht auch etwas anders; und ich
muß ein bißchen lächeln, wenn ich daran denke, wie schrecklich erwachsen
und alt ich mich an diesem Tag gefühlt habe. Und so machten auch wir uns
wieder auf zum Hof, vielleicht konnten wir Frau Ratelli ja bei irgendetwas
zur Hand gehen. Es war an der Zeit sich ein wenig abzulenken.
Als wir in die große Küche kamen wirbelte Frau Ratelli schon wieder emsig
in der Küche umher, und Theresa saß auf einem Stuhl an der der Tür
gegenüberliegenden Wand. Wäre sie nicht blind gewesen, ich hätte
geschworen, ihre Augen hätten mich forschend durchbohrt. Es lag eine
gewisse Spannung in der Luft, die nur auf eine Entladung zu warten schien.
Aber das ist eine andere Geschichte, die gibt es ein anderes mal…
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