Kai-jin
wollte gerade zur Tür hinaus, als diese ohne Vorwarnung von außen geöffnet
wurde. Beinahe hätte sie die Tür vor den Kopf bekommen, und ich dachte
erschreckt daran, wie gut es war, das die Tür jetzt erst aufging, und
nicht ein paar Sekunden vorher.
Es war Vaters Kollegin, seine Freundin, Sekretärin oder Geliebte, oder was
auch immer sie sein mochte.
Wer auch sonst mochte die Unverfrorenheit besitzen einfach so ins Zimmer
zu platzen.
Sie stand noch immer in der Tür und bemühte sich, sich ein Lächeln
abzuringen, was ihr sichtlich schwer fiel.
"Hallo", kam es leise über die Lippen, mehr brachte sie zunächst nicht
hervor, sondern blickte stattdessen hektisch von einem von uns zum
anderen. Nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen,
ergriff sie endlich wieder das Wort.
"Habt ihr einen Moment Zeit?"fragte sie uns, und ihr Blick kreiste dabei
weiter unsicher zwischen uns beiden, "ich würde gerne mal mit euch reden!"
Zeit, was spielte die jetzt eigentlich noch für eine Rolle, fragte ich
mich.
Zeit hatten wir bis morgen, bis der Zug uns zurück in die Heimat bringen
würde.
Zurück nach Hause, direkt in den Untergang der eigenen Familie.
Denn das dieser Abend weit mehr bedeuten würde, als nur die Erinnerung an
eine wilde Schlägerei, das war mir plötzlich klar.
"Ich muß noch meine Koffer packen!" gab meine Schwester patzig zur Antwort
und wollte gerade das Zimmer verlassen, aber ihr wurde in der Tür der Weg
versperrt.
"Bitte!" kam es eindringlich von ihr, "nur ein bißchen Reden!"
Kai-jin war ihr Zorn immer noch anzumerken als sie antwortete: "Ich weiß
zwar nicht was das bringen soll, aber bitte, wenn's denn sein muß!"
Sie blieb aber neben der Tür stehen, gerade so, als wolle sie
dokumentieren, daß sie jederzeit gehen könnte.
"Ich bin Christa!" sagte Vaters Kollegin, und setzte sich kurzerhand auf
den Teppichboden zu unseren Füßen.
"Christa Langway, aber das wißt ihr wahrscheinlich schon!"
Wir mußten beide verneinen, denn Vater hatte nie mit uns über seine
Kollegin gesprochen.
Wann denn aber auch? Selbst hier im Urlaub bekamen wir ihn ja kaum zu
Gesicht.
"Du sprichtst aber gut Deutsch, für einen Ami!" warf Kai-jin ein, und auch
ich war ein bißchen erstaunt über ihr nahezu perfektes Deutsch.
Christa grinste, "ja wenn man in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
dann sollte das auch so sein. Ich bin erst nach dem Studium in die USA
gegangen!"
"Und woher dann der amerikanische Nachname?" bohrte Kai-jin nach.
Doch Christa gab bereitwillig Auskunft. Scheinbar war sie vor allem daran
interessiert eine kleine gemeinsame Basis zu schaffen, auf deren Grundlage
man sich einigermaßen normal unterhalten konnte.
"Der kommt von meinem ersten Mann", erwiederte sie, "der ist Amerikaner,
aber wir sind seit einigen Jahren getrennt. Ich habe ihn aber nicht wegen
eures Vaters verlassen, falls ihr das meint."
"Ja, aber wegen dir wird unser Vater uns verlassen!" fauchte Kai-jin ihr
feindselig entgegen.
Christa schaute ein bißchen traurig drein, sie schien ein Weilchen zu
überlegen, bevor sie antwortete: "Ja, du hast Recht, das wird er.
Eigentlich wollte euer Vater es euch erst zum Ende des Urlaubs erzählen.
Er hatte ein bißchen Angst davor, es euch beibringen zu müssen und er
wollte eigentlich, daß ihr ihn nach diesem Urlaub in guter Erinnerung
behalten würdet!"
"Na super, das ist ihm ja voll gelungen!" warf ich spöttisch und deutlich
lauter ein, als es eigentlich angebracht gewesen wäre.
Christa atmete hörbar tief durch die Nase und verriet damit, daß auch sie
sich zusammenreißen mußte. "Ich glaube, wir haben alle Fehler gemacht, wir
haben versucht euch etwas vorzumachen und haben euren
Zorn damit auf uns gezogen, und ihr..." und dabei schaute sie besonders
mich an, "habt mit eurem Ärger einfach nicht gewußt wohin. Sowas geht
immer so lange, bis jemand das Faß zum überlaufen bringt.
In diesem Fall ist nur leider der Falsche das Opfer geworden."
"Der Falsche?" schnaubte ich verächtig, "der Kerl hat meine Schwester
angegrabscht!"
"Georg!" Christa klang entsetzt, "wir leben doch nicht mehr in den
vierziger Jahren und wir sind hier nicht auf Sizilien. Das hier ist das
moderne Italien der 80er Jahre. Hier gibt es keine Familienehre mehr, die
man mit der Waffe bis aufs Blut zu verteidigen hat."
"Ach ja, aber hier darf ein dahergelaufener Italiener meiner Schwester an
die Brust grabschen?" versuchte ich mich zu verteidigen. "Tolles, modernes
Italien!"
"Georg", und Christas Stimme klang ein bißchen resignierend besorgt, "das
war ein dummer Jungenstreich eines besoffenen Jugendlichen, kein Grund so
auszurasten!"
Tränen der Wut stiegen in mir auf mehr Wut über das Unverständnis das an
ir entgegenbrachte als Wut über die Situation oder das Geschehene.
"Er hat meine Schwester in aller Öffentlichkeit angegrabscht! Niemand!
Niemand grabscht meine Schwester an! Niemand!" schrie ich ihr wütend
entgegen. "Und wenn er das noch einmal probiert, dann schlag ich ihn tot!"
Meine Stimme überschlug sich, und aus mit sprudelte wieder blinde Wut.
Wäre mit jetzt Luigi ein zweitesmal über den Weg gelaufen ich hätte ihn
wahrscheinlich wirklich umgebracht. Doch jetzt projezierte ich meinen
ganzen Haß auf Christa. Und meine Wut steigerte sich noch, als ich Kai-jin
weinen sah.
Doch Christa schüttelte nur mitleidig den Kopf. "Irgendwann, wenn du groß
bist, dann wirst du das vielleicht
verstehen. Du solltest aber mal ernsthaft darüber nachdenken, ob Deine
Reaktion nicht doch arg übertrieben ist!" ihre Stimme klang weiterhin ganz
ruhig. Sie ließ sich überhaupt nicht provozieren. Vielleicht hatte sie
erkannt, wie nah ich dem nächsten Ausraster war.
Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf, was verstand denn Christa
schon, was wußte die den schon? Nichts, garnichts. Die hatte ja keine
Ahnung!
Und wenn ich solche Sprüche hörte ' wenn du erst mal groß bist' , was war
ich denn jetzt? Ein kleiner dummer Junge?
Ich merkte, wie es in mir wieder zu kochen begann, aber ich verkniff mir
weitere Kommentare. Irgendwie erkannte ich trotz meiner Wut, das es nicht
sinnvoll zu sein schien, diese Unterhaltung noch lange fortzusetzen.
"Aber eigentlich wollte ich ja mit euch reden, und euch keine Vorwürfe
machen!" griff Christa die Unterhaltung wieder auf, "ich halte es
jedenfalls nicht für gut, euch wegzuschicken. Ich finde ihr solltet
hier bleiben. Vielleicht lernen wir uns dann besser kennen, und vielleicht
verstehen wir dann einander ein bißchen besser. Ich weiß, daß das für euch
im Moment alles ein bißchen viel ist, und die nächsten Wochen werden auch
bei euch zu Hause sicherlich nicht einfach werden. Deshalb mein Vorschlag,
bleibt noch ein Weilchen hier, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben.
was haltet ihr davon?"
"Ich glaube das spielt doch überhaupt keine Rolle, was wir wollen", warf
Kai-jin ein, die immer noch neben der Tür im Raum stand.
"Doch, für mich schon, wollt ihr das ich noch mal mit eurem Vater rede? Ja
oder nein?"
Kai-jin zuckte nur mit den Schultern. Doch in Anbetracht der
Wahlmöglichkeiten, zwischen hessischer Provinz und einer gewiß
bevorstehenden Auseinandersetzung mit unserer Mutter, die uns garantiert
auch noch ins Haus stand und der Fortsetzung des Urlaubs in irgendeiner
Form, wie auch immer, schien mir die Fortsetzung des Urlaubs angebrachter.
Nicht zuletzt auch deshalb weil ich auf keinen Fall derjenige sein wollte,
der meiner Mutter das Verhältnis zwischen Christa und meinem Vater
erklären wollte. Meiner Mutter gegenüber mag das vielleicht unfair gewesen
sein, aber ich wollte irgendwie nur noch meine Ruhe. Wenn es gegangen
wäre, dann hätte ich einfach ein paar Tage ungeschehen gemacht. Aber nun
mußte man versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Also stimmte
ich zu, und meinte zu Christa, das es vielleicht wirklich besser wäre, wir
blieben noch ein Weilchen hier, wenn das denn ginge, und versuchten uns
ein bißchen besser kennenzulernen.
Kai-jin stimmte mir zu, auch wenn sie vielleicht nicht einmal wirklich
meiner Meinung war, in den Rücken wäre sie mir bestimmt nicht gefallen,
nicht vor Christa.
"Gut, ich rede mit eurem Vater!", mit diesen Worten verließ sie das
Zimmer.
"Und was nun?" fragte Kai-jin, als Christa gegangen war.
"Keine Ahnung", erwiderte ich, und das entsprach absolut perfekt genau
meiner Gefühlslage, ich hatte wirklich überhaupt keine Ahnung, wie es nun
weitergehen sollte. Irgendwie war das alles ein bißchen viel auf einmal,
und heute, rückblickend, frage ich mich manchmal ob die Umstände damals
nicht auch einen guten Teil dazu beigetragen haben, die Bande zwischen mir
und Kai-jin zu stärken. Waren wir nicht nur Bruder und
Schwester, Freund und Freundin, Liebhaber und Geliebte sondern mit dem
heutigen Tag auch gegenseitige Stütze und Halt?
Ein erneutes Klopfen an der Zimmertür riß mich aus meinen Gedanken, wer
war denn das nun wieder? Kai-jin sah mich ebenfalls etwas verdutzt an, den
Christa konnten wir in den unteren Räumen des Hauses mit
meinem Vater streiten hören. Gegenüber meinem Vater war sie wohl nicht so
zurückhaltend wie eben noch bei uns.
"Ja?" rief ich mehr fragend als hereinbittend. Es war Theresa die in der
Tür stand.
"Darf ich reinkommen?" fragte sie, und im gleichen Augenblick wandte sie
sich zu Kai-jin, die noch immer in der Nähe der Tür stand, "ich muß mit
euch beiden reden, unbedingt!"
Noch einer der reden wollte, immer mehr wünschte ich mir, dem heutigen Tag
einfach entfliehen zu können. Hoffte das mich ein lautes Klicken, so als
würde jemand einen Schalter umlegen, aus einem nicht enden wollenden
Alptraum reißen würde, doch es passierte nichts dergleichen.
Theresa steuerte langsam auf mein Bett zu, vorsichtig um nicht über etwas
zu stolpern was ihr eventuell im Weg lag. Als sie das Bett ertastete,
setzte sie sich auf die Bettkante.
"Was ist nun, können wir reden?" bohrte sie noch einmal nach.
Mir wurde etwas unwohl in meiner Haut, denn immerhin hatte ich Kai-jin ja
bislang verschwiegen, was zwischen mir und Theresa an besagtem Abend
passiert war. Was wollte also Theresa nun von uns, und was würde sie
vielleicht erzählen?
"Willst du uns etwa auch Vorwürfe machen?" fauchte Kai-jin sie an.
"Nein, mich entschuldigen!"
Was hatte ich da gerade gehört? Entschuldigen hatte Theresa gesagt? Ich
suchte Kai-jins Blick und bemerkte, daß sie mindestens ebenso überrascht
war.
"Entschuldigen für was?" hakte ich vorsichtig nach.
"Für alles! ich glaube ich habe einen großen Fehler gemacht, und mich in
Dinge eingemischt, die mich nichts angehen!" begann Theresa, "ich hätte
mich bei euch beiden nicht einmischen dürfen, das war ein Fehler."
"Wie bei uns nicht einmischen?" fragte Kai-jin, die die Tür geschlossen
hatte, und ihre Position an der Tür endlich aufgegeben hatte und sich zu
mir auf den Fußboden setzte.
Theresa lächelte mit diesem ihr eigentümlichen tiefgründigem Blick, der
nicht wirklich ein Blick sein konnte. Sie zögerte einen Moment, dann sagte
sie: "Ich weiß das mit euch beiden!"
Totenstille, ich dachte ich sterbe, verängstigt sah ich Kai-jin an, und
ich dachte ich blicke in das Gesicht einer Toten. Alle Farbe war aus ihrem
Gesicht gewichen. Doch Theresa erzählte einfach weiter:
"Als ihr hier angekommen seid, da habt ihr nach Sex gerochen. Soetwas kann
man riechen, und ich kann das besonders gut. Ich kann mit meinen
verbleibenen Sinnen viel mehr, als ihr das könnt, nur sehen kann ich
eben nicht. Ich habe erst gedacht, ich würde mich irren, aber ihr seid
gleich in der ersten Nacht gemeinsam im Bett gewesen. Ihr habt geglaubt
ich hätte das nicht bemerkt, aber als ich euch morgens wecken kam, da lagt
ihr gemeinsam im Bett, denn ich habe den Atem von euch beiden gehört, und
als ich aus diesem Zimmer gegangen bin, um zumindest so zu tun, als wollte
ich Kai-jin wecken, da ist sie hinter mir ins Badezimmer geschlichen, um
es sogleich laut und demonstrativ wieder zu verlassen. Sie hat behauptet,
sie hätte sich gerade frisch gemacht, aber an ihr haftete noch der Geruch
der Nacht, das mußte sie nur dann tun, wenn es etwas zu verbergen gab, und
so habe ich eins und eins zusammengezählt."
Um mich herum begann sich alles zu drehen. Das konnte doch nicht wahr
sein. Theresa hatte das alles gewußt? Panik stieg in mir auf, und ein
Blick in Kai-jins Augen verriet mir, daß es ihr nicht viel besser ging.
"Ich habe geglaubt, ich könnte diese Situtaion ausnutzen. Deshalb auch
mein Vorschlag, Abends etwas zu unternehmen. Ich wollte endlich auch mal
einen Jungen."
Das klang schon fast wie eine Entschuldigung und war eindeutig an die
Adresse von Kai-jin gerichtet.
"Ich war mir sicher, wenn Georg schon ein Verhätnis mit seiner Schwester
hätte, dann wäre er auch abgebrüht genug, mit mir ins Bett zu gehen."
Kai-jins Blick durchbohhrte mich regelrecht und ich fragte mich, ob der
Abend eigentlich noch schlimmer werden konnte. Doch Theresa fuhr unbeirrt
fort.
"Als ihr am Tag nach eurer Ankunft von der Radtour zurückgekommen seid, da
war ich mir ganz sicher, ihr habt so deutlich nach Sex gerochen, ihr müßt
es wirklich wild miteinander getrieben haben. Um so sicherer war ich mir,
Luigi wäre genau der Richtige für mein Vorhaben. Er ist in der Stadt
bekannt für seine übertriebene Macho-Art. Viele Mädchen haben Angst vor
ihm, und es heißt er würde vor nichts zurückschrecken, um ein Mädchen zu
bekommen. Luigi sollte Kai-jin beschäftigen, und ich wollte endlich auch
mal auf meine Kosten kommen.
Aber ihr müßt mir glauben, ich habe Luigi nichts von dem gesagt, was ich
wußte."
Mir viel alles aus dem Gesicht, ich war entsetzt, Welten brachen zusammen,
aber ich war unfähig etwas zu sagen, was sollte ich auch sagen, mich
verteidigen? Lügen? Mir fiel einfach nichts ein, und so fuhr Theresa fort.
"Leider war mein Plan ein totaler Reinfall, es tut mir wirklich Leid, daß
ich das getan habe! Ich hätte mich da raushalten sollen."
"Hast Du mit Geo geschlafen?"
Oh, nein, jetzt bloß nicht das, schoß es mir durch den Kopf, als Kai-jin
die Frage stellte.
"Nein, natürlich nicht", log Theresa mit einer Überzeugung, die bei
Kai-jin scheinbar jeden Zweifel sofort hinwegfegte, "wäre ich sonst hier!"
"Ich habe es nicht geschafft ihn wirklich herumzukriegen, mehr als ein
paar Küßchen waren da nicht. Ich habe dir deinen Bruder nicht
weggenommen!"
"Er ist nicht mein richtiger Bruder!" fauchte Kai-jin dazwischen.
"Das weiß ich!" bestätigte Theresa nickend, "euer Vater hat es mal
erzählt!"
So langsam kam ich wieder auf diese Welt zurück, und es gelang mir ein
paar Gedanken zu fassen.
"Aber wenn Du glaubst ich vögel mit Kai-jin, was hältst Du denn davon? was
sagst Du dazu?" fragte ich Theresa.
"Das ist eure Sache, das geht mich nichts an, ich habe mich sowieso schon
zu viel in Dinge eingemischt, die mich überhaupt nichts angehen. Tut mir
Leid, wirklich!"
Ich war total konsterniert. Wir waren soeben aufgeflogen, und das einzige
was passierte, wir ernteten ein Schulterzucken, mehr nicht.
"und nun?" fragten Kai-jin und ich nahezu zeitgleich.
"Ich wollte nur, daß ihr das wißt. Und noch etwas, macht euch um Luigi und
seine Freunde keine großen Sorgen. Die hatten eigentlich längst mal eine
ordentliche Tracht Prügel verdient, nur hat sich nie einer getraut. Das
sie die nun ausgerechnet von euch Kindern bekommen haben, hat ihrem Ego
sicherlich den größten Knacks beigebracht, aber es wird ihnen bestimmt
eine Lehre sein."
Kinder? hatte Theresa Kinder gesagt? Ja waren wir denn noch Kinder?
"Glaubst Du wir sind noch Kinder?" Sprach ich meine Gedanken laut aus.
"Altersmäßig vielleicht, aber sonst eigentlich eher nicht! Ich bin mir nur
nicht sicher, ob das gut ist!" beantwortete Theresa meine Frage, und ich
verstand damals nicht genau, was sie damit eigentlich sagen wollte. Heute
frage ich mich jedoch manchmal, ob wir unsere Kindheit nicht viel zu früh
verloren haben.
"Und was ist jetzt mit Luigi?" fragte Kai-jin
"Darüber macht euch mal keine Sorgen, das regel ich schon. Erzähl mir mal
lieber, was an dem Abend passiert ist", wandte sich Theresa an Kai-jin,
und sie erzählte was ich bereits über den Zwischenfall mit Luigi wußte,
und man merkte Theresa an, daß es ihr nun noch peinlicher war, uns mit
Luigi konfrontiert zu haben. immer wieder entschuldigte sie sich bei uns
und insbesondere bei Kai-jin.
Wir sprachen noch lange über dieses und jenes und Theresa stellte sich als
äußerst verständnisvoll heraus. Sie wußte von dem Verhältnis unseres
Vaters und wußte längst, daß er beabsichtigte seine Familie zu verlassen.
Sie hörte einfach besser als wir, oder zumindest hörte sie besser zu.
Zum ersten mal war da plötzlich ein Mensch, dem wir uns anvertrauen
konnten, denn es gab keine Geheimnisse mehr, außer dem Abend mit Theresa
selbst. Eine Last viel von mir und plötzlich wurde mir bewußt, das es
längst tief in der Nacht sein mußte. Noch immer vernahm man die Stimmen
von Christa und meinem Vater aus der unteren Etage, die heftig miteinander
stritten. Insgeheim wünschte ich mir ein, daß dieser Streit vielleicht zu
einem Bruch zwischen den beiden führen würde. Vielleicht würde sich dann
ja wieder alles einrenken. Aber das Leben ist eben nun mal kein
Wunschkonzert.
Doch Theresa, die unsere Müdigkeit zu bemerken schien, meinte plötzlich,
das es wohl nun Zeit wäre ins Bett zu gehen und verabschiedete sich von
uns.
Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Magen verschloss ich die
Korridortür, ich wollte keine Störung mehr, nicht an diesem Abend.
"Und was machen wir jetzt?" fragte mich Kai-jin.
Ich wußte es nicht, ich war völlig ratlos. Wir haben immer gewußt, daß
das, was wir getan hatten als absolut verboten galt. Es war uns immer
bewußt, das man uns ächten würde, das wir Ausgestoßene sein würden, wenn
wir jemals aufflogen, jedenfalls waren wir immer davon ausgegangen. Es
würde auf dieser Welt wohl nur ganz wenige Menschen geben, die auch nur
ein Fünkchen Verständnis für uns aufbringen würden, und ausgerechnet hier
bei Theresa in unserem Urlaub sollten wir auf solch einen Menschen
gestoßen sein?
Ich war immer davon ausgegangen, wir hätten es perfekt geschafft unser
Verhältnis zu tarnen. Und nun kam eine Blinde dahergelaufen, deren
restliche Sinne wegen ihrer Blindheit geschärft waren, und sie sagte uns
auf den Kopf zu, das sie riechen könne, das wir miteinander Geschlafen
hätten.
Und die einzige Reaktion daruf war, daß sie sich dafür bei uns
entschuldigte, wie sie sich verhalten hatte? Ich konnte es nicht fassen,
ich war mir nicht klar darüber ob ich mich freuen sollte oder ob ich mich
gleich übergeben müßte, denn mich beschlich eine unbändige Angst. Aber es
war nicht mehr die Angst aufzufliegen, es war viel mehr panische Angst,
Kai-jin zu verlieren.
Ich drehte mich zu ihr um, nahm sie bei der Hand, und gemeinsam gingen wir
in ihr Zimmer. Und wie als wäre es das normalste auf dieser Welt, zog
Kai-jin die Vorhänge zu, schaltete das Licht aus, und begann damit sich
auszuziehen. Wir sprachen kein Wort, doch auch ich entledigte mich meiner
Kleidung, und nackt wie wir beide Waren krochen wir unter die Decke meines
Bettes. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten, ich war nervlich
am Ende und doch durchströmte mich ein endloses Glücksgefühl, als ich mich
mit Kai-jin in zärtlicher Umarmung vereinigte. Auch sie weinte lautlos und
beim Küssen schmeckte ihr Gesicht salzig. Ich kam nicht zum Höhepunkt, und
ich glaube auch Kai-jin blieb er versagt, und doch vermisste ich diesen
Gipfel der Lust zumindest in dieser Nacht nicht. Wer wußte schon, wie oft
wir diese glücklichen Momente noch erleben durften.
Aus der unteren Etage des Haupthauses hörten wir noch immer den lauten
Streit zwischen Christa und meinem Vater. Aber nun mischte noch eine
weitere Stimme in diesem Konzert mit. Unverkennbar die Stimme von Theresa.
Ich konnte nicht verstehen, was gesprochen und diskutiert wurde, ich
wollte es vermutlich auch garnicht. Viel zu tief saß die Angst, die Angst
vor eventuellen Konsequenzen unseres Handelns aber auch die Angst, alles
könnte für immer vorbei sein.
Aufgewühlt von den Ereignissen der vergangenen Stunden konnten wir dennoch
dem Schlaf nicht widerstehen, der uns letztlich siegreich in seinen Bann
zog.
Erst ein lautes Poltern und Klopfen an der Korridortür riß mich aus dem
Schlaf, und das laute, fast ängstliche Brüllen meines Vaters ließ mich
elektrisiert aus dem Bett hochfahren.
Doch das ist eine andere Geschichte, die gibt es ein anderes mal.
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