"Ich möchte
dir erzählen, wie es dazu kam. Bitte hör mir zu." "Ich höre." Der kühle
Wind wehte stärker. Die Regentropfen wurden größer und klatschten uns ins
Gesicht. Auf den Wellen waren weiße Schaumkronen. Die Gischt der sich am
Pier brechenden Wellen spritzte durch die Luft und wurde vom Wind verweht.
Ich erzählte Annabelle die gesamte Geschichte mit Kerstin. Von ihrem
Angebot im Eiscafé, wie sie mich im Postkartenladen in ihren Ausschnitt
schauen ließ, von meinen Gewissensbissen in der Nacht unseres Treffens und
wie es schließlich passierte. Annabelle verzog keine Mine. Ich konnte
nicht erkennen, ob die Tropfen in ihrem Gesicht vom Regen stammten oder ob
sie weinte. Starr sah sie auf das Wasser hinaus, genauso wie ich. Ich
hatte nicht die Kraft, ihr in die Augen zu sehen. "Annabelle, du weißt
nicht wie das ist, ein Junge zu sein! Du hast sehr oft Lust auf Sex, öfter
als Mädchen. Und wenn dir dann noch ein schönes Mädchen wie Kerstin sich
dir anbietet, dann hast du dich einfach nicht mehr unter Kontrolle! Das
hat nicht viel mit Liebe zu tun. Es ist unsere genetische Veranlagung, es
ist wie ein Fluch!" Der Himmel hatte sich dramatisch verdunkelt. Gleich
würde es in Strömen zu regnen beginnen.
Ich machte eine kurze Pause. "Annabelle, es tut mir leid, daß ich dich so
verletzt habe. Ich wollte das nicht, ich könnte dir doch nie etwas antun."
Meine Augen füllten sich mit Tränen und das Sprechen fiel mir auf einmal
sehr schwer. "Du bist so ein guter Mensch, du hast es nicht verdient,
betrogen zu werden. Ich möchte mit dir zusammen sein, ich brauche deine
Nähe! Seit der ersten Minute mag ich dich! An dieser Stelle konnte ich die
Tränen nicht mehr zurückhalten. "Bitte sieh mich an, Annabelle! Sieh mir
in die Augen!" Langsam drehte sie sich zu mir herum und sah zu mir herauf.
Ich bemerkte, wie blaß ihr Gesicht war. Unter den Augen hatte sie dunkle
Ringe, als hätte sie die letzte Nacht kein Auge zugetan. Ihre Augen hatten
den unbeschwerten Glanz vom ersten Tag verloren. "Bitte sei wieder
glücklich, Annabelle!" flüsterte ich ihr zu. Ich konnte nur noch mit
tränenerstickter Stimme sprechen. "Ich kann es nicht ertragen, dich so zu
sehen, ich liebe dich doch, ich liebe dich doch!" Annabelle senkte ihren
Blick und sah auf den Boden. Dann ging sie langsam durch den strömenden
Regen davon. Ich blieb an dem Holzgeländer des Piers stehen. Meine Seele
wurde von einem scharfen Schwert durchbohrt. Ich flüsterte zunächst:
"Bitte, bleib doch bei mir", dann rief ich: "Annabelle!" Ich rief immer
lauter ihren Namen, zum Schluß schrie ich ihn aus voller Kehle in den
Regen hinaus. "Annabelle! Laß mich nicht allein! Kerstin bedeutet mir
nichts! Ich hasse sie! Annabelle!!!" Doch sie drehte sich nicht einmal um.
Da brach ich weinend und wie von Krämpfen geschüttelt zusammen. Auf dem
Bauch lag ich auf den Holzplanken des Piers, die Hände vorm Gesicht. Ich
hatte das Gefühl, sterben zu müssen, es war seelische Folter. Warum kann
Liebe so verletzend sein? Ich weiß nicht, wie lange ich da lag. Der Regen
prasselte auf mich nieder, doch es war mir vollkommen egal. Meine Kleidung
war triefend naß. Ich wimmerte wie ein sterbendes Tier vor mich hin, immer
wieder flüsterte ich mit heiserer Stimme ihren Namen. Es wurde dunkel,
aber ich hatte keine Lust mehr, aufzustehen. Da merkte ich, das sich
jemand neben mich gehockt hatte. Es war Annabelle. Sie war zurückgekehrt,
ich wußte nicht warum. Langsam sah ich zu ihr auf. Auch sie war völlig
durchnäßt, sie hatte wohl auch irgendwo allein im Regen gesessen. Zärtlich
strich sie mir mit einer Hand durch mein nasses Haar. Dann sagte sie: "Wir
gehören zusammen, das weiß ich jetzt." Wir standen auf und umarmten uns
stürmisch. Wir weinten beide bitterlich, diesmal aus Liebe zueinander.
Lange standen wir so da. Irgendwann gingen wir Hand in Hand zurück zum
Zeltplatz, wo alle schon schliefen. Auf dem Weg dorthin liebten wir uns in
den Dünen und diesmal geschah es wirklich aus Liebe.
Wir verbrachten noch ein paar wunderschöne Tage miteinander. Kerstin
ignorierten wir völlig. Ich lernte Annabelles Eltern kennen, mit denen ich
mich auf Anhieb gut verstand. Annabelle brach die Freundschaft zu ihr ab.
An unserem letzten gemeinsamen Tag in Dänemark tauschten wir unsere
Adressen aus. Aber wir wußten beide, daß jetzt alles vorbei war, jedoch
sprach es keiner von uns aus. Wir taten so, als würden wir uns nochmal
wiedersehen.
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